Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 1 B 19/09 AS - Beschluss vom 25.01.2010
Nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 14 Abs. 1 RVG i.V.m. der Nr. 3106 des Vergütungsverzeichnisses i.V.m. der (amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 3 (zum 3.Teil des VV) fällt eine sog. fiktive Terminsgebühr nicht an, wenn ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch angenommenes Anerkenntnis endet, ohne dass eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat Eine Auslegung von Nr. 3106 VV RVG ergibt, dass der dem eigentlichen Gebührentatbestand folgende Satz "Die Gebühr entsteht auch [ ...]" so zu lesen ist, als sei die in Nr. 1 enthaltene Formulierung "in einem Verfahren, in dem mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist" vor die Klammer gezogen, die Vorschrift also lautete: "Die Gebühr entsteht auch, wenn in einem Verfahren, in dem mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, 1. [ ...]". Dies ergibt die historische, systematische und teleologische Auslegung dieses Gebührentatbestandes. Deshalb ist im Ergebnis ohne Belang, dass der Wortlaut - isoliert betrachtet - auch die von der Erinnerungsführerin favorisierte Bedeutung zuließe.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Zutreffend hat das SG die Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bestätigt. Die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung der Erinnerungsführerin beträgt EUR 226,10. Die außerdem in Rechnung gestellten EUR 238 (für eine fiktive Terminsgebühr in Höhe von EUR 200 zzgl. 19% USt) stehen ihr dagegen nicht zu.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft, §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG). Diese allgemein für das Kostenfestsetzungsverfahren des im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts geltenden Spezialvorschriften gehen den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) (direkt oder über die Blankettverweisung in § 73a SGG, die auch den Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts erfasst) vor, so dass §§ 178, 197 Abs. 2 SGG keine Anwendung finden (Senatsbeschlüsse vom 28.1.2008, Aktenzeichen (Az) L 1 B 30/07 AL, und 29.1.2008, Az L 1 B 35/07 AS; so auch: Thür. LSG, Beschluss vom 26.11.2008, Az L 6 B 130/08 SF; LSG NRW, Beschl. vom 20.10.2008, Az L 20 B 67/08 AS; LSG NRW, Beschluss vom 28.5.2008, Az L 20 B 7/08 AS; LSG NRW, Beschluss vom 15.5.2008, Az L 7 B 63/08 AS m.w.N.; a.A.: LSG Niedersachsen-Bremen in mehreren Entscheidungen, vgl. zuletzt Beschluss vom 9.6.2009, Az L 13 B 1/08 SF m.w.N.; LSG RP, Beschluss vom 7.4.2008, Az L 2 B 47/08 SB; LSG BB Beschluss vom 28.2.2005, Az L 9 B 166/02, darauf Bezug nehmend ohne eigene Begründung ebenso: Leitherer in: Meyer-Ladewig u.a ... SGG. Kommentar. 9.Aufl. 2009. § 178 Rdnr. 3 aE). § 197 Abs. 2 SGG ist auch deshalb nicht einschlägig, weil diese Vorschrift nur für Verfahrensbeteiligte des Ausgangsverfahrens gilt (Beschlüsse des LSG NW vom 4.6.2008 und 1.4.2009, Az L 19 B 5/08 AL und L 19 B 137/07 AS m.w.N.; Straßfeld in: Jansen, SGG, 3. Auflage 2009, § 197 Rdnr. 3; Hk-SGG-Groß. 2. Aufl. 2005. § 197 Rdnr. 4).
Der Wert des Beschwerdegegenstands übersteigt EUR 200, §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 1 RVG. Die - maßgebliche - formelle Beschwer beträgt EUR 238, da die neben der Terminsgebühr von EUR 200 angesetzte Umsatzsteuer in Höhe von EUR 38 als zusätzliche Vergütungsposition einzubeziehen ist (Hartmann. Kostengesetze. 39. Auflage 2009. § 32 RVG Rdnr. 17 m.w.N.). Die Beschwerde wurde fristgerecht innerhalb der maßgeblichen Zweiwochenfrist erhoben (Zustellung 7.7., Eingang 15.7.2009), §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 3 RVG.
Erinnerungs- und beschwerdebefugt ist allerdings - entgegen der Auffassung des SG - nicht die Klägerin, sondern allein die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die im Übrigen auch allein antragsbefugt i.S. von § 55 Abs. 1 Satz 1 RVG ist (vgl. Hartmann. A.a.O. § 56 RVG Rdnr. 4; Gerold/Schmidt - Müller-Rabe. RVG. Kommentar. 18. Aufl. 2008. § 56 Rdnr. 6; Hartung/Römermann/Schons. Praxiskommentar zum RVG. 2. Aufl. 2006. § 56 Rdnr. 9). Da die streitige Vergütung erkennbar in dem dafür vorgesehenen Verfahren geltend gemacht werden soll, ist (lediglich) das Rubrum von Amts wegen entsprechend zu ändern.
In der Sache ist die Beschwerde unbegründet, da der Urkundsbeamte die Vergütung der Erinnerungsführerin richtig festgesetzt hat. Dabei ist zu Recht zwischen den Beteiligten nur streitig, ob (auch) die geltend gemachte (sog. fiktive) Terminsgebühr angefallen ist. Dies ist nicht der Fall, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Berechnung einer Terminsgebühr nicht vorliegen.
Nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 14 Abs. 1 RVG i.V.m. der Nr. 3106 des Vergütungsverzeichnisses (VV) zum RVG (=Anlage 1 zu diesem Gesetz) i.V.m. der (amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 3 (zum 3.Teil des VV) fällt eine sog. fiktive Terminsgebühr nicht an, wenn ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch angenommenes Anerkenntnis endet, ohne dass eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat (so i.E. auch: LSG NRW, Beschluss vom 25.9.2009, Az L 13 B 15/08 R; LSG SH, Beschluss vom 10.9.2009, Az L 1 B 158/09 SK E; LSG NRW, Beschluss vom 20.10.2008, Az L 20 B 67/08 AS; BGH NJW 2007, 1461ff; Curkovic in: Bischof. RVG. Kommentar. 3. Aufl. 2009. Nr. 3006 VV RVG Rdnr. 7; a.A. Bay LSG, Beschluss vom 26.8.2009; Az L 15 B 950/06 AS KO; Thür. LSG, Beschluss vom 26.11.2008, Az L 6 B 130/08 SF; Beschluss des LSG NRW vom 26.4.2007, Az L 7 B 36/07 AS; Müller-Rabe. a.a.O. Nr. 3106 VV RVG Rdnr. 6). Eine Auslegung von Nr. 3106 VV RVG ergibt, dass der dem eigentlichen Gebührentatbestand folgende Satz "Die Gebühr entsteht auch [ ...]" so zu lesen ist, als sei die in Nr. 1 enthaltene Formulierung "in einem Verfahren, in dem mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist" vor die Klammer gezogen, die Vorschrift also lautete: "Die Gebühr entsteht auch, wenn in einem Verfahren, in dem mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, 1. [ ...]". Dies ergibt die historische, systematische und teleologische Auslegung dieses Gebührentatbestandes. Deshalb ist im Ergebnis ohne Belang, dass der Wortlaut - isoliert betrachtet - auch die von der Erinnerungsführerin favorisierte Bedeutung zuließe.
Bereits der rechtssystematische Kontext der Regelung macht deutlich, dass die Gebührenprivilegierung nur für Verfahren gelten soll, in denen der Prozessbevollmächtigte a priori mit (im Instanzenzug mindestens) einer mündlichen Verhandlung rechnen darf, weil sie als Kernstück eines rechtsstaatlichen Gerichtverfahrens den von Verfassungs wegen vorgegebenen Regelfall darstellt. Der Gebührentatbestand der Nr. 3106 VV RVG i.V.m. der (amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 3 (zum 3.Teil des VV) bestimmt zunächst, dass eine Terminsgebühr nur anfällt, wenn ein Termin stattfindet, weil grundsätzlich nur tatsächlicher Aufwand vergütet wird. Die sich an den eigentlichen Gebührentatbesatnd anschließende (Zusatz-)Regelung betrifft Ausnahmetatbestände und legt fest, wann eine solche Gebühr anfällt, obwohl k e i n Termin stattgefunden hat. Sie befasst sich in den Nrn. 1 und 2 mit Klageverfahren vor den Sozialgerichten, in denen (a priori) regelmäßig durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden ist, § 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das ist bei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in denen das Gericht durch Beschluss entscheidet (§ 86b Abs. 4 SGG), nicht der Fall, § 124 Abs. 3 SGG. Vor diesem Hintergrund liegt nahe, dass auch die Nr. 3 einen solchen Fall meint, also den Fall eines Klageverfahrens, in dem regelmäßig durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden wird (vgl. auch: LSG NRW, Beschluss vom 25.9.2009, Az L 13 B 15/08 R). Dadurch gewinnt die aus den Nrn. 1 und 2 übernommene Formulierung "ohne mündliche Verhandlung" in Nr. 3 ihren besonderen (kontrapunktischen) Sinn; für den von der Erinnerungsführerin favorisierten Sinngehalt besagte sie lediglich (deklaratorisch), dass nach einem Termin nicht zusätzlich die fiktive Terminsgebühr anfallen kann (ähnlich wohl: LSG SH, Beschluss vom 10.9.2009, Az L 1 B 158/09 SK E). Rechtssystematisch ist überdies von Belang und bestätigt das gefundene Ergebnis, dass die Fallkonstellation des § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG gerade nicht in die Ausnahmetatbestände einbezogen ist, eben weil in diesen Fällen regelmäßig bereits in erster Instanz eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat oder - falls man die Vorschrift auch in den Fällen des § 124 Abs. 2 SGG für anwendbar hält - die Beteiligten freiwillig darauf verzichtet haben.
Historische und teleologische Auslegung bestätigen dieses Ergebnis. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte mit den Regelungen in Nrn. 3104 und 3106 VV RVG (unter Einbeziehung der früheren §§ 114 Abs. 3 und 116 Abs. 2 Satz 2 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO)) die frühere Regelung aus § 35 BRAGO übernommen werden, die die fiktive Verhandlungsgebühr nach entfallener, aber an sich vorgeschriebener mündlicher Verhandlung regelte (BT-Drs 15/1971 S 212). Die Terminsgebühr sollte damit für den Rechtsanwalt ein Anreiz sein, in jedem Stadium des Verfahrens zu einer Erledigung ohne (an sich vorgesehenen) Verhandlungstermin beizutragen (BT-Drs 15/1971 S 148, 209; Curkovic. A.a.O. Rdnrm. 4, 10). Auf dieser Grundlage liegt nahe anzunehmen, dass auch die Ausnahmeregelung in Nr. 3 einen Anreiz für den Rechtsanwalt darstellen soll, auf die an sich vorgesehene mündliche Verhandlung zu verzichten, wenn das von ihm erstrebte (Maximal-)Ergebnis auch ohne eine solche erreicht werden kann, also nicht (lediglich) aus Kostengründen auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen (so auch: BGH. A.a.O. Rdnr. 19). Eines solchen Anreizes bedarf es aber nicht in Verfahren, in denen ohnehin keine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, in denen der Rechtsanwalt also regelmäßig von vorne herein keine Terminsgebühr erwarten darf. Die Regelung in Nr. 3 dient folglich objektiv (auch) der Prozessökonomie, nämlich dem Zweck, die Sozialgerichte von unnötiger Arbeit zu entlasten. Dieser Zweck kommt in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zum Tragen, weil dort eine mündliche Verhandlung nicht als Regelfall vorgesehen ist und in Anbetracht des Eilcharakters auch nur ganz ausnahmsweise stattfindet.
Diese den Wortlaut einschränkende Interpretation der Nr. 3 in Nr. 3106 VV RVG steht in Einklang mit dem allgemeinen rechtsmethodischen Grundsatz, dass Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind.
Dem von der Erinnerungsführerin für ihre Auffassung angeführten Beschluss des LSG NRW vom 26.4.2007 (Az L 7 B 36/07 AS) folgt der Senat nicht, weil darin die wesentlichen Aspekte zur Auslegung der Norm nicht angesprochen werden, sondern unterstellt wird, der (RVG-)Gesetzgeber habe die fiktive Terminsgebühr zum Ausgleich einer drastischen Gebührenreduzierung im Bereich des Sozialrechts (im Übrigen) eingeführt (so auch Curkovic. A.a.O. Rdnr. 5). Für diese Einschätzung sieht der Senat jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte (ebenso: LSG NRW, Beschluss vom 25.9.2009, Az L 13 B 15/08 R). Auch zwei weitere, mit jeweils anderer Begründung zum gleichen Ergebnis gelangende Beschlüsse überzeugen ebenfalls nicht (Bay. LSG, Beschluss vom 26.8.2009; Az L 15 B 950/06 AS KO; und obiter dictum: Thür. LSG, Beschluss vom 26.11.2008, Az L 6 B 130/08 SF). Das Bayrische LSG (a.a.O.) stützt seine Entscheidung auf die letzte Alternative der (amtlichen) Vorbemerkung 3 Abs. 3 (zum 3.Teil des VV). Es kann dahin stehen, ob diese Vorschrift in sozialgerichtlichen Verfahren eine eigenständige zusätzliche Anspruchsgrundlage für eine fiktive Terminsgebühr darstellt. Jedenfalls ist hier anders als dort weder vorgetragen noch erkennbar, dass intensive außergerichtliche Gespräche zur Erledigung des Rechtsstreits geführt haben. Das Thüringer LSG (a.a.O.) stellt in seiner kurzen Begründung maßgeblich ab auf den Wortlaut und - vereinfachend - auf den Zweck, außergerichtliche Erledigungen zu fördern. Das hält der Senat aus den weiter oben angeführten Gründen für zu kurz gegriffen und deshalb nicht stichhaltig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG.