Hessisches Landessozialgericht - L 1 VE 30/10 - Urteil vom 26.06.2014
In Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gilt die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Danach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Diese Beweiserleichterung ist auch anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind. Das gilt auch, wenn zwar Zeugen vorhanden sind, diese aber von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen oder wenn der Zeuge als Täter in Betracht kommt, aber die schädigende Handlung bestreitet. Wenn die Angaben des Opfers das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung des Opfers und deren Behandlung beeinflusst sein können, ist ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1951 geborene Klägerin beantragte am 23. November 2011 über ihre damalige Betreuerin (Betreuung bis Oktober 2006) bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre schweren Gesundheitsstörungen im psychiatrischen Bereich seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus (Vater) sowie von sexuellem Missbrauch durch Fremde (u.a.: Kapuzenmänner) und einen Nachbarn. Die Taten hätten sich zwischen ihrem 4. und 14. Lebensjahr zugetragen. Zur Bestätigung ihres Vorbringens legte sie einen Bescheid des Versorgungsamtes vom 31. Juli 2001 über einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 vor. Zur Weitergabe von Namen und Adressen von Familienangehörigen/Tätern war sie zunächst wegen der Gefahr einer Retraumatisierung nicht bereit. Der Beklagte zog medizinische Unterlagen aus dem Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, aus dem Stadtkrankenhaus Hanau, aus der Klinik Hohe Mark in Oberursel und aus der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien bei. Im Weiteren hörte er die Klägerin an, zog die Schwerbehindertenakte der Klägerin bei und holte - nach Vorlage entsprechender Adressen - eine schriftliche Aussage der Mutter der Klägerin, Frau C., ein, die diese am 10. April 2003 vorlegte.
Mit Bescheid vom 1. August 2003 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab. Es lasse sich nach dem Ergebnis der Sachaufklärung nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass es sich bei den Vorfällen um Gewalttaten im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG gehandelt habe. Die eigenen Schilderungen der Tatgeschehen und die Aussage der Mutter seien sehr dürftig. Die Möglichkeit der Beweiserleichterung könne nur dann herangezogen werden, wenn aus Gründen, die die Klägerin nicht zu vertreten habe, keine anderen Nachweise von ihr angeboten werden könnten. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die Klägerin nicht bereit sei, die Täter bzw. mögliche Zeugen zu benennen. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 12. August 2003 holte der Beklagte eine Aussage des Bruders der Klägerin, Herrn D. (jetzt: D.), am 29. Oktober 2003 ein und befragte die Klägerin im Beisein ihrer behandelnden Ärztin, Frau Dr. F., und ihrer Betreuerin am 30. März 2004. Zu den Akten gelangten zudem durch Frau Dr. F. Entlassungsberichte über stationäre Aufenthalte der Klägerin in der Klinik Hohe Mark vom 2. Mai 2001, 8. Mai 2002, 27. Januar 2003 und vom 12. Januar 2004 und aus dem Klinikum Stadt Hanau vom 22. Oktober 2002, 14. November 2002, 15. November 2002 und vom 28. April 2003. Nach einer aktenmäßigen Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten, Dr. G., vom 24. August 2004 und vom 17. August 2005 zog der Beklagte weitere Unterlagen aus dem Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main vom 22. April 1996, 13. Januar 1994 und vom 15. Juni 1990, Herrn Dr. H. und aus der Klinik Hohe Mark und aus dem Klinikum Stadt Hanau bei. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. April 2006 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin nach Einholung einer aktenmäßigen nervenärztlichen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Beklagten, Frau Dr. J., vom 21. Februar 2006 zurück. Die beigezogenen Befunde ließen keine Rückschlüsse auf einen sexuellen Missbrauch zu. Vielmehr könne davon ausgegangen werden, dass im Kindesalter bereits Störungen des Essverhaltens begonnen hätten und zusammen mit einem Betäubungsmittelmissbrauch bis Anfang der 90er Jahre die einzigen psychiatrischen Diagnosen geblieben seien. Erstmals im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung 1991/1992 hätten Missbrauchserlebnisse Erwähnung gefunden. Es sei somit nicht auszuschließen, dass es sich um "therapieinduzierte Erinnerungen" handele.
Hiergegen hat die Klägerin am 17. Mai 2006 Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben. Zur Begründung hat sie darauf hingewiesen, dass aus den von dem Beklagten beigezogenen Befundberichten hervorgehe, dass sie erstmals im Alter von vier Jahren von ihrem Vater und später auch von weiteren Familienmitgliedern wie ihrem älteren Bruder und dessen Freund und einem Nachbarn bzw. dem Hausarzt sexuell misshandelt und missbraucht worden sei. Die in den medizinischen Berichten aufgeführten so genannten Flashbacks und Albträume mit affektiven Entgleisungen sprächen für posttraumatische Störungen aufgrund traumatischer Ereignisse. Auch ihre übrigen Erkrankungen wie Annorexia Nervosa, Bulimie, Majordepression und psychogene Anfälle ließen auf dramatische Erlebnisse schließen. Ihr Bruder habe zu den Vorfällen Angaben machen können, obwohl er nicht direkter Augenzeuge des sexuellen Missbrauchs gewesen sei, da sie sich ihm gegenüber habe öffnen können. Zudem resultiere die Tatsache, dass in den frühesten Befundberichten keine Rede von sexuellen Übergriffen gewesen sei, daraus, dass Missbrauchsopfer zunächst einem Verdrängungseffekt unterlägen und sich erst im Laufe einer ausführlichen Beratung und Therapie öffnen könnten. Zur Bestätigung ihres Vorbringens hat sie eine Stellungnahme ihrer psychologischen Psychotherapeutin, Frau L., vorgelegt. Der Beklagte hat im Klageverfahren an seiner Rechtsauffassung, dass der geltend gemachte sexuelle Missbrauch im Kindesalter nicht als erwiesen angesehen werden könne, festgehalten. Vergleichbare Fälle psychisch schwer kranker Patienten, die langjährig psychotraumatisch behandelt worden seien, zeigten ein auch bei der Klägerin erkennbares "Ausufern" in ihren Schilderungen des sexuellen Missbrauchs, was für "therapieinduzierte Erinnerungen" sprechen könnte. Die Anzahl der Täter (Vater, Nachbar, Freunde des Vaters, Kapuzenmänner, satanische Sekte) und die Intensität der Missbrauchserlebnisse (Vergewaltigungen, Trinken von Tierblut, Manipulationen an toten Tieren, Beschmieren des Körpers mit Tierblut, Verkehr mit Tieren) nehme permanent zu. Zur Bestätigung seines Vorbringens hat er sozialmedizinisch-nervenärztliche Stellungnahmen von Herrn K. vom 29. Juli 2008 und vom 21. Dezember 2008 vorgelegt. Das Sozialgericht hat der Klägerin mit Beschluss vom 10. Juli 2007 Prozesskostenhilfe bewilligt und Befundberichte von Frau L. vom 23. Februar 2008, Dr. F. (Klinikum Hanau GmbH) vom 3. April 2008 und Dr. M. (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Klinik Hohe Mark) vom 1. Februar 2008 eingeholt. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 14. Oktober 2010 hat es die Klägerin angehört und den jüngeren Bruder der Klägerin, Herrn D., als Zeugen vernommen. Mit Urteil vom 14. Oktober 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es stehe nicht fest, dass die Klägerin in ihrer Kindheit Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person geworden sei. Der vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff, die gesundheitliche Schädigung und die Gesundheitsstörungen im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG müssten grundsätzlich bewiesen sein. Vom Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs sei auch bei dem sexuellen Missbrauch eines Kindes auszugehen, selbst wenn dabei keine Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeübt werde. Aufgrund der Beweiserleichterung nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könnten die Angaben der Klägerin, da unmittelbare Tatzeugen nicht vorhanden seien, allein zur Gewährung von Leistungen ausreichen, wenn sie den Umständen nach glaubhaft seien. Glaubhaftmachung bedeute dabei das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen habe. Es genüge insoweit, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sei, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spreche. Hiervon sei das Gericht nicht überzeugt. Ausweislich der Angaben der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung sei die schriftliche Zeugenerklärung der Mutter von der Klägerin selbst geschrieben worden. Auch durch die Aussage des Zeugen D. habe keine wirkliche Aufklärung erfolgen können, da dieser damals erst drei oder vier Jahre alt gewesen sei und den Vater nur kurz kennengelernt habe. Da der Vater zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Sanatorium gelebt habe, seien die zeitlichen Angaben der Klägerin zu den geschilderten Abläufen nicht recht nachvollziehbar. Sowohl die Schilderung über den erlittenen Missbrauch in der Gartenhütte im Rahmen einer satanischen Sekte als auch die Häufung der behaupteten Übergriffe (fast täglicher Missbrauch) erschienen "unglaublich".
Gegen das den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 22. Oktober 2010 zugestellte Urteil hat diese am 9. November 2010 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung weist sie darauf hin, dass keiner der sie behandelnden Ärzte davon ausgehe, dass sie übertriebene Tendenzen in der Darstellung des durch sie Erlebten zeige. Aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Befundberichte zeige sich gerade, dass sie die verdrängten Seiten ihrer Lebensgeschichte erst nach und nach Dritten gegenüber habe offenbaren können. Im Rahmen der Anhörung durch sie im Verwaltungsverfahren seien ihre Angaben von der anwesenden Juristin des Beklagten zwar als "unglaublich", aber glaubwürdig eingestuft worden. Der Sachbearbeiter der Beklagten habe wohl generelle Bedenken gegenüber den Angaben, die Gewaltopfer, die in der Klinik Hohe Mark therapiert würden, machten. Ihr jüngerer Bruder habe in Teilen auch durch seine Aussage die Vorkommnisse bestätigt (Übergriffe des älteren Bruders). Soweit der Beklagte den Standpunkt vertrete, dass im Verlauf der Jahre der Täterkreis immer größer geworden sei, sei dies durch die erhobenen Befunde und die immer wiederkehrenden Klinikaufenthalte nicht zu belegen. Sie sei erst nach einer längeren Zeitspanne der Behandlung überhaupt in der Lage gewesen, das Erlebte aufgrund ihrer Scham und Angst zu thematisieren. Dies sei von der behandelnden Therapeutin, Frau L., auch so bestätigt worden. Bei der Aufnahme in die Klinik Hohe Mark (1997) habe sie sich bereits (1991) Frau L. gegenüber bzgl. der Missbrauchserlebnisse geöffnet gehabt. Erstinstanzlich hätte in Form eines aussagepsychologischen Gutachtens zudem weiter ermittelt werden müssen.
Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 13. Juli 2011 Prozesskostenhilfe bewilligt und die Klägerin um eine nähere Abgrenzung der geltend gemachten Vorfälle in zeitlicher, räumlicher und personeller Hinsicht gebeten. Im Anschluss daran hat der Senat im Rahmen des Erörterungstermins am 2. Mai 2012 den jüngeren Bruder der Klägerin, Herrn D., als Zeugen vernommen. Die Mutter der Klägerin, Frau C., und der ältere Bruder der Klägerin, Herr C., der nach einem Schlaganfall in der geschlossenen Demenzabteilung im Seniorenheim N-Stadt lebt und unter Betreuung steht, haben im Verfahren von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Mit Beweisanordnung vom 11. Oktober 2013 hat der Senat ein aussagepsychologisches Gutachten bei Frau Dipl.-Psychologin E. in Auftrag gegeben. Auf entsprechenden Hinweis hat der Senat die vollständigen Patientenakten der Klägerin aus der Klinik Roseneck (4 Bände), der Klinik Hohe Mark, aus dem Kinikum Hanau (30 Hänger) und von Frau L. (4 Leitzordner) beigezogen und der Gutachterin zur Auswertung übersandt. Im Rahmen ihres am 30. April 2014 vorgelegten Gutachtens kommt die Gutachterin E. zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob die Angaben der Klägerin zu dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, mehrere Männer, ihren älteren Bruder sowie einen Nachbarn im Kindesalter unter Berücksichtigung des aktuellen aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt aus aussagepsychologischer Sicht als mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert anzusehen seien, verneint werden müsse.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weist darauf hin, dass die Gutachterin E. im Rahmen ihres Sachverständigengutachtens nicht den zutreffenden Beweismaßstab zugrunde gelegt habe. Ein Missbrauchstatbestand sei zudem in Form der Vergewaltigung mit knapp 11 Jahren auch durch die Gutachterin als erlebnisfundierte Erstbekundung beurteilt worden. Während der persönlichen Unterredung der Klägerin mit der Gutachterin habe diese noch drei Selbstbeurteilungsinventare bearbeitet. Die Klägerin sei nicht in der Lage, Fragen auf die "Schnelle" zu beantworten, weshalb die gegebenen Antworten bezüglich des Hervortretens von Widersprüchen hinsichtlich der Zeitpunkte der Tatbegehungen und der Tatbegehungsweisen nicht zutreffend sein müssten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Oktober 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 1. August 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz ab dem 21. November 2001 wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlicher Misshandlung in den Jahren 1955 bis 1965 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Ergänzend weist er darauf hin, dass erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der behaupteten Ereignisse bestünden. Die Schilderungen der angeschuldigten Gewalttaten in den medizinischen Unterlagen beruhten ausschließlich auf den Angaben der Klägerin. Die Ausführungen des Bruders der Klägerin, Herrn D., aus dem Jahre 2003 (Angaben im Verwaltungsverfahren) deckten sich nicht mit seinen Angaben im erstinstanzlichen Verhandlungstermin am 14. Oktober 2010 und diese seien im Rahmen des Erörterungstermins am 2. Mai 2012 erneut konträr gewesen. Vom Vorliegen eines Krankheitsbildes könne zudem nicht auf den angeschuldigten Versorgungstatbestand geschlossen werden. Die geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten auch ohne ein traumatisierendes Ereignis entstehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 1. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2006 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. dem BVG wegen der Folgen eines sexuellen Missbrauchs sowie körperlicher Misshandlungen in den Jahren 1955 - 1965. Lediglich klarstellend weist der Senat darauf hin, dass der von der Klägerin vorgetragene sexuelle Missbrauch durch einen früheren Arbeitgeber im Alter von 22 Jahren und die Vergewaltigung durch jugendliche Täter im Alter von 46 Jahren nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens sind. Insoweit handelt es sich um gesonderte Sachverhalte nach dem OEG. Diesbezüglich sind von der Klägerin keine Versorgungsleistungen beantragt worden und es liegt auch keine Entscheidung des Beklagten vor.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
In Altfällen wie dem vorliegenden, bei denen Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) - 23. Mai 1949 - und dem Inkrafttreten des § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG - 16. Mai 1976 - zeitlich einzuordnen sind, müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. Der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein. In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern i.S. von § 176 Strafgesetzbuch (StGB) versteht das Bundessozialgericht den Begriff des tätlichen Angriffs aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG weiter. Insoweit ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, allein entscheidend, dass die Begehungsweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat darstellen. Auch der "gewalt-lose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind. Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R; vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R und vom 29. April 2010, B 9 VG 1/09 R m.w.N. - juris -).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Sache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, das alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, Urteile vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R und vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R; Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B - juris -).
Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgungsleistungen wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs sowie körperlicher Misshandlungen im streitgegenständlichen Zeitraum.
Nach der Auffassung des Senats ist ein tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht bewiesen.
Grundsätzlich müssen, wie oben dargestellt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 OEG voll bewiesen sein. Die vorgetragenen sexuellen Übergriffe und Misshandlungen in den Jahren 1955 - 1965 sind nicht bewiesen. Die Klägerin hat weder bei der Polizei Anzeige erstattet noch hat sie zeitnah anderen Personen von den Vorfällen erzählt. Die erstmalige dokumentierte Erwähnung einer "Vergewaltigung" erfolgte im Rahmen des stationären Aufenthalts in der Klinik Roseneck, Prien vom 24. Oktober 1990 bis zum 11. April 1991 und damit fast 30 Jahre nach dem (behaupteten - "Vergewaltigung mit knapp 11 Jahren" -) ersten erlittenen sexuellen Übergriff. Dokumentationen ärztlicher Untersuchungsergebnisse liegen aus dem maßgeblichen Zeitraum nicht vor. Die Angaben der Klägerin bezüglich Tatgeschehen und Tätern variieren zudem im Laufe des Verfahrens. So wurde z.B. noch im Verwaltungsverfahren von der Klägerin der ältere Bruder als Täter nicht benannt (Protokoll über die Befragung der Klägerin im Klinikum Stadt Hanau am 30. März 2004 - Bl. 104 der Verwaltungsakte). Im Rahmen der Anhörung der Klägerin am 14. Oktober 2010 vor dem Sozialgericht Frankfurt berichtete die Klägerin dann von dem Missbrauch auch durch ihren älteren Bruder.
Gemäß § 6 Abs. 3 OEG ist allerdings auch im Anwendungsbereich des OEG die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG anzuwenden. Danach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen (Satz 1 der Vorschrift).
Diese besondere Beweiserleichterung ist auch im Falle der Klägerin zu beachten. Zwar wollte § 15 KOVVfG ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller häufig befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die Beweiserleichterung ist jedoch auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89 - juris -). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R - juris -). Es fehlt vorliegend an weiteren Beweismitteln, die das Vorbringen der Klägerin belegen können. Die Mutter der Klägerin und der ältere Bruder der Klägerin, Herr C., haben von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 383 Abs. 1 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) bzw. § 384 ZPO Gebrauch gemacht. Der jüngere Bruder, Herr D., hat im Rahmen des Erörterungstermins am 2. Mai 2012 zwar von einem Vorfall in der Wohnung berichtet, den er im Alter von 3 bis 4 Jahren beobachtet haben will (eine Person auf dem Boden, eine zweite beugt sich mit erigiertem Glied über diese). Er hat jedoch ausdrücklich keine Gesichter zu den Personen erinnert und insoweit bereits im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main am 14. Oktober 2010 angegeben, kein Augenzeuge bezüglich weiterer Handlungen gewesen zu sein. Insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass ausweislich des Gutachtens der Gutachterin E. vom 24. April 2014 im Alter von unter vier Jahren in der Regel eine Aussagetüchtigkeit nicht gegeben ist.
Auch unter Anlegen des abgesenkten Beweismaßstabes hält es der Senat nicht für glaubhaft, dass die Klägerin in den Jahren 1955 - 1965 Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen geworden ist.
Hierfür besteht nach den Gesamtumständen, wie sie sich aus den Akten und dem Vorbringen der Klägerin ergeben, nicht die gute Möglichkeit im oben dargestellten Sinn. Hierbei stützt sich der Senat u.a. auf das nach einer Befragung der Klägerin in häuslicher Umgebung erstellte aussagepsychologische Gutachten von Frau E. vom 24. April 2014. Ein solches Glaubhaftigkeitsgutachten war vorliegend einzuholen, da die Angaben der Klägerin das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Klägerin und deren Behandlung beeinflusst sein können (Bundessozialgericht, Beschlüsse vom 7. April 2011, B 9 VG 15/10 B und vom 24. Mai 2012, B 9 V 4/12 B; Bundessozialgericht, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R - juris -). Ausweislich der beigezogenen medizinischen Unterlagen gehen die Behandler der Klägerin bei dieser u.a. vom Vorliegen einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS - veralteter Begriff: multiple Persönlichkeitsstörung) aus (vgl. Befundberichte von Dr. F. vom 3. April 2008 und von Frau L. vom 23. Februar 2008). Es handelt sich hierbei um eine schwere persönlichkeitsstrukturelle Schädigung mit bedeutsamen Implikationen für die Frage der Aussagetüchtigkeit. Ausweislich des Gutachtens von Frau E. verdeutlichen empirische Untersuchungen eine multifaktorielle Genese der DIS. Danach weisen selbst Vertreter des posttraumatischen Modells darauf hin, dass bis heute nicht bewiesen ist, dass Kindheitstraumata DIS verursachen. Von Seiten der wissenschaftlich orientierten Psychologie wird ein so genanntes soziokognitives Modell formuliert, welches zur Erklärung der Genese der Störung herangezogen wird. Hiernach werden soziale Einflüsse bei der Entstehung der DIS diskutiert, die als das Resultat sozialer Lernprozesse - auch im Verhältnis Patient-Therapeut -, soziokultureller Erwartungen und medialer Darstellungen angesehen wird.
Nach den Ausführungen der Gutachterin E. sind die Angaben der Klägerin zu dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater, mehrere Männer, ihren älteren Bruder sowie einen/mehrere Nachbarn nicht mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert anzusehen. Im Gegensatz dazu lassen sich nach der Gutachterin E. in der Aussageentwicklungsgeschichte eine Vielzahl von Faktoren identifizieren, die typischerweise bei der Genese von Pseudoerinnerungen wirksam werden. Unter Bezugnahme auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse führt die Gutachterin zunächst aus, dass in einem Altersbereich von unter vier Jahren und so auch bei der Klägerin in der Regel noch keine Aussagetüchtigkeit vorhanden ist. Diese entwicklungsbedingte Aussageuntüchtigkeit für frühe Erlebnisse kann danach auch nicht mit zunehmender kognitiver Reife der Klägerin "nachgeholt" werden. Bei Ereignissen, die sich im Vorschulalter zugetragen haben, sind nach der Gutachterin zudem allenfalls fragmentierte Erinnerungen zu erwarten, nicht jedoch solche von szenischer Ausgestaltung und hohem Detailreichtum. Nach der Gutachterin sind vorliegend zudem tatbestandsbezogene Aufmerksamkeits- und Gedächtnisbeeinträchtigungen infolge der Einnahme oder Verabreichung psychotroper Substanzen zu beachten (Angabe zu chronischem Beruhigungsmittelgebrauch ab der Jugend). Eine Aussagetüchtigkeit der Klägerin für jene Taten und Zeiträume, die dissoziationsbedingt nicht in den Wahrnehmungs- und Erlebnisbereich der Klägerin gefallen sind, können im Weiteren deshalb nicht positiv festgestellt werden. Unter Bezugnahme auf die empirische Befundlage kann nach der Gutachterin auch nicht bereits aus dem Vorliegen der DIS auf erlittene schwere Kindheitstraumata geschlossen werden. Die ärztlichen Dokumentationen enthalten danach Hinweise auf eine DIS-orientierte Psychotherapie mit Verstärkung der Patientin darin, Innenpersönlichkeiten zu präsentieren. Die theoretische Annahme von Dissoziation als Bewältigungsmechanismus zum emotionalen Überleben in traumatischen Situationen findet nach der Gutachterin keine Bestätigung in den Angaben der Klägerin, da diese ausführt, im Wesentlichen bei ihren Alltagsaufgaben in der Kindheit dissoziiert zu haben, aber nur selten bei den an ihr verübten Taten.
Zudem weist die Gutachterin E. für den Senat in zutreffender Weise darauf hin, dass die aktenkundigen Tatschilderungen der Klägerin eine Reihe von Widersprüchen aufweisen. Diese beziehen sich unter anderem auf die Täter (Ersttäterschaft Bruder, dann Vater als erster Täter), Tatzeiträume der sexuellen Übergriffe des älteren Bruders C., geboren 1948 ("8. bis 10. Lebensjahr" bzw. "Zeit nach dem Tod des Vaters" - 1960 -; im Therapieverlauf: "schon zu Lebzeiten des Vaters"; "Missbrauch durch den Bruder mit 6 Jahren"), Altersabstand zum Bruder ("4 Jahre älter", "7 Jahre älter"), Vater-Tochter-Beziehung (zunächst Aussagen: "Tod des Vaters Verlust", "sie habe den Vater geliebt"; nach 3 Jahren Psychotherapie: "Täter"), Häufigkeitsangaben der sexuellen Übergriffe durch Nachbar O. ("4 mal", "5 mal insgesamt", "3-4 mal pro Woche", "täglich", "ein fester Tag einmal die Woche über mehrere Jahre", "gegen Mittag"), durch den Vater ("fast täglich") und die Kapuzenmänner ("5-6 mal wöchentlich") in Verbindung zu den Tatgelegenheiten des Vaters (frühere Angaben: "Vater meist abwesend von zu Hause, da Aufenthalt in einer Heilstätte") und die Rolle des Hausarztes ("sie habe ihm wegen der Verletzungen oft Lügen erzählt" vs. "er habe sie gemeinsam mit den anderen Kapuzenmännern und ihrem Vater missbraucht"). Dies ist für den Senat nach der eigenen Sichtung und Prüfung der umfangreichen beigezogenen medizinischen Unterlagen nachvollziehbar.
Die Auswertung der vorliegenden Befunde ergibt nach den Ausführungen der Gutachterin Aufschluss über die desolate psychische Verfassung der Klägerin im Therapieverlauf mit massiven Schlaf- und Essstörungen, Albträumen, hypnopompen Halluzinationen und pseudohalluzinatorischem Erleben im Tagesverlauf, Flashbacks, deliranten Zustandsbildern, ausgeprägter Schmerzsymptomatik, anhaltendem Grübeln und Sedativaabusus, was insgesamt ein Zustandsbild mit erheblichen Auswirkungen auf die Realitätsüberwachungsfähigkeiten der Klägerin begründet. Hieraus resultiert der Gutachterin zufolge eine geminderte Realitätskontrolle im Sinne der Fähigkeit, eine klare und verlässliche Grenze zwischen wahrgenommenen, real erlebten Ereignissen einerseits und lediglich auf die Vorstellungsebene produzierten Inhalten (Wünsche, Ängste, Befürchtungen, Traum- und Fantasieinhalte) andererseits zu ziehen. Die psychopathologischen Erlebnisbesonderheiten der Klägerin im Zeitraum der Aussagegenese und -entwicklung und die damit einhergehende erhebliche Labilisierung sowie die Befriedigung von Aufmerksamkeits- und Zuwendungsbedürfnissen durch Traumaschilderungen sind als Faktoren zu begreifen, welche nach der Gutachterin die Ausbildung oder Ausgestaltung von Pseudoerinnerungen erheblich begünstigt haben können. So führen die Erinnerungsbemühungen der Klägerin dazu, dass im Zeitverlauf immer mehr Täter und Missbrauchssituationen erinnert wurden, dass bereits erinnerte Situationen an Detailreichtum gewonnen haben und dass dieses Prozessgeschehen nicht abbildet, wie sich autobiografische Erinnerungen im allgemeinen verhalten. Die inkohärenten Aussagen der Klägerin bezüglich der Täterschaft des Bruders und die Aussageveränderungen bezüglich der Täterschaft des Vaters und seiner Bekannten sprechen nach der Gutachterin typischerweise für sich entwickelnde Pseudoerinnerungen. Dies gilt nach der Gutachterin E. auch für die hohe Detailliertheit der Tatdarstellungen. Soweit die Gutachterin bezüglich der ersten dokumentierten Angaben der Klägerin ("Vergewaltigung mit knapp 11 Jahren 4 mal durch einen Nachbar namens P." - Anamnese im Rahmen des stationären Aufenthaltes in der Klinik Roseneck beim Aufenthalt 10/90 - 4/91) die Möglichkeit einer erlebnisfundierten Aussage bejaht, reicht nach oben Dargestelltem im Rahmen der durch den Senat vorzunehmenden Beurteilung der Glaubhaftmachung eines Geschehensverlaufs bei der sorgfältigen Gesamtabwägung mit den bereits oben genannten Gesichtspunkten die alleinige Möglichkeit nicht aus. Die Gutachterin weist darauf hin, dass darüber hinausgehend wissenschaftlich fundierte Schlussfolgerungen heute nicht mehr zu ziehen sind und insbesondere weitere Ermittlungsmöglichkeiten durch eine Exploration der Klägerin aufgrund der Erinnerungskonstruktionen ausgeschlossen sind. Insoweit ist nach der Auffassung des Senats im Weiteren zu berücksichtigen, dass die von der Klägerin geschilderte hohe Tatfrequenz nebst den regelmäßig schweren körperlichen Verletzungen durch die Vergewaltigungen und sexuellen Misshandlungen des Vaters, des Bruders, der Nachbarn und "Kapuzenmänner" kaum integrierbar mit dem gleichfalls von der Klägerin geschilderten Alltag als Kind erscheinen. Soweit die Prozessbevollmächtigte der Klägerin aus den Ausführungen der Gutachterin ("Es kann allerdings heute nicht mehr mit der gebotenen Zuverlässigkeit rekonstruiert werden, welche Erfahrungen Frau A. in ihrer Kindheit und Jugend gemacht hat, ob diese ein solches Ausmaß erreichten, dass die Bezeichnung "Trauma" hier adäquat zu verwenden wäre und von welcher Person/welchen Personen ihr gegebenenfalls erhebliches Leid zugefügt worden ist") schlussfolgert, dass außer Frage stehe, dass die Klägerin krankmachende Erfahrungen gemacht habe, verkennt diese, dass diese Ausführungen lediglich im Zusammenhang der von der Gutachterin aus psychologischer Sicht zu diskutierenden "historischen Partialrealität" stehen. Die oben dargestellte "Beweisnot", die zutreffender Weise von der Gutachterin ihrer Schlussfolgerung bezüglich der Möglichkeit einer Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin bei ihrer Erstbekundung in der Klinik Roseneck vorangestellt wurde, ist für die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens gerade Voraussetzung.
Der Senat folgt dem Gutachten von Frau E. bezüglich der Frage der Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin. Dieses ist unter Berücksichtigung und Auswertung sämtlicher, umfangreich beigezogener Patientenunterlagen der Klägerin und nach einer eigenen Exploration der Klägerin erstellt, in sich schlüssig und nachvollziehbar. Theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise entsprechen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft und berücksichtigen insbesondere den vom Gericht für den vorliegenden Fall mitgeteilten Beweismaßstab der relativen Wahrscheinlichkeit bei der Frage der Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin - Bl. 117 ff und Bl. 181 f des Gutachtens (vgl. insoweit: Bundessozialgericht, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R juris -).
Soweit die Prozessbevollmächtigte der Klägerin letztlich zur Frage des im vorliegenden Fall angewandten Beweismaßstabes zunächst eine mündliche Anhörung der Gutachterin und Einsicht in die Originalunterlagen der testpsychologischen Untersuchungen (Selbstbeurteilungsinventare) begehrte, hat sie diese Anträge im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 26. Juni 2014 nicht aufrechterhalten (vgl. insoweit: Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Auflage 2012, § 118 Rdnr. 12e). Der Senat sah sich diesbezüglich auch nicht veranlasst, die Gutachterin ergänzend zu hören. Die Frage, ob im Rahmen des erstellten Sachverständigengutachtens der zutreffende Beweismaßstab Berücksichtigung gefunden hat, stellt eine vom Gericht zu beantwortende Rechtsfrage dar. Insoweit nimmt der Senat auf die obigen Ausführungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in der Entscheidung vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R Bezug. Der Senat sah sich zudem nicht gedrängt, dem Verfahren die drei im Rahmen der Begutachtung durch die Klägerin erstellten schriftlichen Selbstbeurteilungsinventare im Original von der Gutachterin beizuziehen. Der Senat kann nicht erkennen, inwiefern die Dokumentation der Ergebnisse der psychologischen Testung ohne Vorlage der bearbeiteten Selbstbeurteilungsinventare im Original die Nachvollziehbarkeit des erstellten Sachverständigengutachtens beeinflussen bzw. beeinträchtigen könnte. Dies ist von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch nicht nachvollziehbar dargelegt worden. Insoweit verkennt die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zunächst, dass ausweislich des Gutachtens das Gespräch (psychologische Exploration) der Gutachterin mit der Klägerin von 9.00 Uhr bis 12.05 Uhr dauerte und im Anschluss an dieses die Klägerin die Selbstbeurteilungsinventare (Fragebogen für dissoziative Symptome - FDS -; Creative Experience Questionnaire - CEQ - zur Erfassung der individuellen Fantasieneigung; Cognitive Failures Questionnaire - CFQ - zur Erfassung diskreter kognitiver Fehlleistungen in Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis und Handlungsausübung bei der Verrichtung von Alltagsroutinen) bearbeitete. Die Schlussfolgerungen der Gutachterin stützen sich zudem auf die Kenntnis der übersandten Akten unter Einschluss der umfassenden Krankenakten sowie auf die im Rahmen der persönlichen Exploration der Klägerin erhobenen Befunde (Bl. 137 ff des Sachverständigengutachtens), die allein grundlegend für die Aufdeckung aktenkundiger widersprüchlicher Tatschilderungen waren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.