Bayerisches Landessozialgericht - L 2 SF 64/13 B - Beschluss vom 25.09.2015
Ein fortbestehendes Beratungsarztverhältnis zwischen dem Sachverständigen und dem beklagten Unfallversicherungsträger begründet die Besorgnis der Befangenheit. Die Unfallversicherungsträger haben kein eigenes ärztliches Personal und bedienen sich deshalb der Hilfe von - meist selbstständigen oder anderweitig beschäftigten - beratenden Ärzten, mit denen sie dauerhafte Vertragsbeziehungen unter Einschluss einer Vergütung aufbauen und die insbesondere die Aufgabe haben, in Streitfällen zu eingeholten Gutachten aus Sicht der Beklagten Stellung zu nehmen. Abgesehen von der gezahlten Vergütung, setzt ein solches Beratungsarztverhältnis eine besondere Vertrauensbeziehung voraus, in dem sich der Unfallversicherungsträger darauf verlässt, dass der beratende Arzt die Interessen der Unfallversicherungsträger in vollem Umfang wahrnimmt. Hieraus entsteht eine besondere Nähe zum Unfallversicherungsträger, die aus Sicht der Versicherten auch bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit bzw. Unvoreingenommenheit des Sachverständigen zu begründen. Eine Aussage, dass der Sachverständige tatsächlich parteilich oder voreingenommen ist, ist damit nicht verbunden, aber auch nicht notwendig.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. S. begründet ist. Die Beschwerdeführerin (Bf.) ist Klägerin in einem Rechtsstreit betreffend die Anerkennung der Berufskrankheiten Nrn. 1302 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) und dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Dieser Rechtsstreit wird beim Sozialgericht (SG) Würzburg unter dem Az. S 5 U 157/12 geführt.
Das SG Würzburg hat mit Beweisanordnung vom 09.10.2012 den Leiter des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin am Klinikum der F.-Universität J., Prof. Dr. S., zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Die Parteien erhielten die Beweisanordnung in Abdruck.
Mit Schriftsatz vom 25.10.2012, beim SG am selben Tage eingegangen, hat die Klägerin den Sachverständigen Prof. Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Der Sachverständige sei intensiv in berufsgenossenschaftliche Abläufe eingebunden, und zwar sowohl in wissenschaftlicher als auch in sonstiger Hinsicht. Jedenfalls sei seine Befangenheit deshalb zu besorgen, weil er früher für die Beklagte als beratender Arzt tätig gewesen sei und es vermutlich immer noch sei. Verwiesen wurde auf den Aufsatz "Ethische Aspekte der arbeitsmedizinischen Begutachtung aus Sicht des Gewerbearztes" von Prof. Dr. Ulrich Bolm-Audorff, in der dieser die Auffassung vertrat, dass beratende Ärzte sowohl der zuständigen als auch anderer Unfallversicherungsträger nicht als Sachverständige in Betracht kommen sollten.
Das SG hat hierzu die Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. S. eingeholt, der mit Schreiben vom 05.11.2012 einräumte, im Rahmen seiner gutachtlichen Nebentätigkeit gelegentlich auch beratend für die Beklagte tätig gewesen zu sein und dies auch immer noch zu sein, allerdings nicht in dem zu beurteilenden Fall. Er sehe sich weder als wirtschaftlich noch disziplinarisch von der Beklagten abhängig und deshalb nicht als befangen an. Auch wenn er Beratungsarzt der Beklagten sei, ergebe sich seine Unabhängigkeit jedenfalls aus seiner Stellung als unabhängiger Professor.
Ohne die Bf. zu der Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. S. anzuhören, hat das SG mit Beschluss vom 21.11.2012 (Az. S 5 SF 194/12) den Antrag auf Ablehnung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. S. wegen Befangenheit abgewiesen. Der Ablehnungsantrag sei wegen Rechtsmissbräuchlichkeit unzulässig, da absolut untaugliche Gesichtspunkte zur Substantiierung des Ablehnungsantrags vorgebracht würden. Unabhängig davon sei der Antrag auch unbegründet. Eine etwaige Tätigkeit des Sachverständigen Prof. Dr. S. als beratender Arzt oder Gutachter für Berufsgenossenschaften in anderen Verwaltungsverfahren begründe für sich keine Zweifel an der Objektivität und Unparteilichkeit des Sachverständigen. Entgegen der im Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz von Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer geäußerten Auffassung vermöge das Gericht auch in der beratenden Tätigkeit des Sachverständigen einen Grund zur Besorgnis der Befangenheit nicht zu erkennen.
Gegen diesen am 10.12.2012 dem Bf. zugestellten Beschluss hat dieser mit beim SG am 18.12.2012 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt.
Neben weiteren Ausführungen zur Besorgnis der Befangenheit aufgrund der Stellung des Sachverständigen als Beratungsarzt hat sich die Bf. insbesondere dagegen gewandt, dass das SG ihr Anliegen als rechtsmissbräuchlich bezeichne, jedoch andererseits selbst grundlegende verfahrensrechtliche Vorschriften missachte, wie hier die Gewährung rechtlichen Gehörs zu der von Prof. Dr. S. eingeholten Stellungnahme.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat bei der Beklagten den Beratungsarztvertrag für Prof. Dr. S. angefordert. Die Beklagte hat einen mit ihrer Rechtsvorgängerin, der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft, für Prof. Dr. S. abgeschlossenen Vertrag vom 01.03.2005 vorgelegt, wonach dieser ab dem 01.03.2005 bis auf Weiteres die Aufgaben eines fachärztlichen Beraters für die Bezirksverwaltung übernahm. Das Honorar für diese Tätigkeit war entsprechend einem Hinweis des Gerichts geschwärzt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft, da sie noch eingelegt worden war, bevor die Änderung des § 172 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Art. 7 Nr. 11 Buchst. a des Gesetzes zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze (BUK-Neuorganisationsgesetz - BUK-NOG) vom 19.10.2013 (BGBl. I S. 3836) gemäß Art. 17 Abs. 1 des Gesetzes am 25.10.2013 in Kraft getreten ist.
Die Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das SG das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen Prof. Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
Das Ablehnungsgesuch ist zulässig. Von einer Rechtsmissbräuchlichkeit kann keine Rede sein. Das Gesuch ist auch fristgerecht eingegangen. Nach § 118 Abs. 1 SGG sind im sozialgerichtlichen Verfahren über die Ablehnung eines Sachverständigen die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) anzuwenden. Nach §§ 406 Abs. 2 Satz 1, 411 Abs. 1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem Gericht oder dem Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung zu stellen - zu einem späteren Zeitpunkt nach § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO nur dann, wenn der Antragsteller Gründe nennen kann, dass er die Befangenheit ohne sein Verschulden erst zu einem späteren Zeitpunkt geltend machen konnte. Diese Zweiwochenfrist war durch das am 25.10.2012 eingegangene Ablehnungsgesuch eingehalten, weil in den Akten nicht dokumentiert ist, wann die Bf. Kenntnis von der Beweisanordnung vom 09.10.2012 erhalten hat.
Das Ablehnungsgesuch ist auch begründet. Das seit 2005 bestehende Beratungsarztverhältnis zwischen dem Sachverständigen und der Beklagten begründet die Besorgnis der Befangenheit.
Nach §§ 406 Abs. 1 Satz 1, 42 Abs. 1 und 2 ZPO findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit bzw. Unvoreingenommenheit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Der Grund, der das Misstrauen rechtfertigt, muss bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise vom Standpunkt der Partei aus vorliegen. Rein subjektive Vorstellungen und Gedankengänge des Antragstellers scheiden aus (Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl. 2013, § 42 Rdnr. 9).
Ein fortbestehendes Beratungsarztverhältnis zwischen dem Sachverständigen und dem beklagten Unfallversicherungsträger begründet die Besorgnis der Befangenheit (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 11. A. 2014, § 118 Rdnr. 12j). Die Unfallversicherungsträger haben kein eigenes ärztliches Personal und bedienen sich deshalb der Hilfe von - meist selbstständigen oder anderweitig beschäftigten - beratenden Ärzten, mit denen sie dauerhafte Vertragsbeziehungen unter Einschluss einer Vergütung aufbauen und die insbesondere die Aufgabe haben, in Streitfällen zu eingeholten Gutachten aus Sicht der Beklagten Stellung zu nehmen. Abgesehen von der gezahlten Vergütung, setzt ein solches Beratungsarztverhältnis eine besondere Vertrauensbeziehung voraus, in dem sich der Unfallversicherungsträger darauf verlässt, dass der beratende Arzt die Interessen der Unfallversicherungsträger in vollem Umfang wahrnimmt. Hieraus entsteht eine besondere Nähe zum Unfallversicherungsträger, die aus Sicht der Versicherten auch bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit bzw. Unvoreingenommenheit des Sachverständigen zu begründen. Eine Aussage, dass der Sachverständige tatsächlich parteilich oder voreingenommen ist, ist damit nicht verbunden, aber auch nicht notwendig.
Offen bleibt, ob ein früher bestehendes, inzwischen aber beendetes Beratungsarztverhältnis mit dem beklagten Unfallversicherungsträger die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt. Offen bleibt weiter, ob ein Beratungsarztverhältnis mit einem anderen als dem beklagten Unfallversicherungsträger die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt. Ebenso bleibt offen, ob und inwieweit eine gutachterliche Tätigkeit des Sachverständigen für den beklagten Unfallversicherungsträger, die in anderen Fällen als dem konkret streitigen Sachverhalt erfolgt, die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt.
Eine Kostenentscheidung ergeht nicht, weil bei erfolgreicher Beschwerde deren Kosten als solche des zugrunde liegenden Rechtsstreits anzusehen sind (Thomas/ Putzo, a.a.O., § 406 Rdnr. 11 i.V.m. § 46 Rdnr. 10).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.