Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

Der am 30.10.1957 geborene Kläger hatte am 15.02.2010 die Erhöhung des bei ihm bislang anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 100 sowie die Zuerkennung diverser Merkzeichen, darunter "RF", beantragt. Als Behinderungen waren damals anerkannt eine Colitis ulcerosa (Einzel-GdB 70), eine posttraumatische Belastungsstörung mit Persönlichkeitsstörung und Depression (Einzel-GdB 30) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (20). Den Antrag lehnte das Versorgungsamt beim Landratsamt Göppingen (LRA) mit Bescheid vom 08.06.2010 insgesamt ab. Im Widerspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die psychische Erkrankung des Klägers als Folge einer Inhaftierung in der früheren DDR nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt und als solche mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 (insgesamt 50 unter Einschluss einer Erhöhung um 10 Punkte wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) bewertet worden war. Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 29.07.2010 einen Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid, mit dem er den Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 auf 90 anhob und den Widerspruch im Übrigen, auch hinsichtlich der Merkzeichen, zurückwies. In dem anschließenden Klageverfahren (S 14 SB 2936/10) holte das Sozialgericht Ulm (SG) schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärztinnen Dr. B. vom 21.02.2011 und Dr. v. A. vom 10.03.2011 ein. Dr. B. sagte dort aus, der Kläger könne nicht zwischen Stuhl- und Luftdrang unterscheiden, er sei daher ständig darauf bedacht, dass eine Toilette unmittelbar erreichbar sei und folge dem nicht differenzierbaren Drang panisch. Insbesondere nach Durchfall-Episoden mit Stuhlinkontinenz und Erbrechen habe sich bei ihm eine sehr krankhafte phobische Zwang- und Angstreaktion entwickelt. Er habe sein Leben um erreichbare Toiletten herum organisiert. Er vermeide Aktivitäten mit unklarer Erreichbarkeit von Toiletten. Oft rufe schon der Gedanke, eine Toilette sei nicht in kürzester Zeit erreichbar, massiven Stuhldrang hervor. Im Nachgang hierzu verglichen sich die Beteiligten dahin, dass der Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 100 betrage, jedoch keine Merkzeichen beständen. Dem entsprechenden Angebot des beklagten Landes hatte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C. vom 29.03.2011 zu Grunde gelegen, worin bei gleichbleibenden Einzel-GdB ein Gesamt-GdB von 100 vorgeschlagen und zum Merkzeichen "RF" ausgeführt worden war, bei öffentlichen Veranstaltungen sei "in der Regel" eine Toilette ständig erreichbar. Den Ausführungsbescheid zu diesem Vergleich erließ das LRA am 07.06.2011. Darin ist auch ausgeführt, das bereits zuvor zuerkannte Merkzeichen "G" (gehbehindert) bleibe zuerkannt.

Am 25.07.2011 beantragte der Kläger bei dem LRA erneut die Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Er berief sich auf die schriftlichen Aussagen seiner behandelnden Ärzte in dem vorangegangenen Klageverfahren. Er trug vor, Dr. C.s Annahmen zum Merkzeichen "RF" in der Stellungnahme vom 29.03.2011 seien völlig lebensfremd. Mit Bescheid des LRA vom 28.07.2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts des beklagten Landes vom 16.08.2011 wurde der Antrag abgelehnt. Am 28.08.2011 hat der Kläger Klage zum SG erhoben. Er wolle sich selbst nicht zumuten, in einem Konzert neben sich zu sitzen. Nicht immer sei eine Toilette unmittelbar erreichbar. Es komme vor, dass er auf dem Weg zur Toilette ungewollt Stuhl oder stinkende Luft verliere. Dr. B. und Dr. v. A. hätten eindeutig bestätigt, dass ihm - dem Kläger - das Merkzeichen "RF" zuerkannt werden müsse.

Das SG hat die beiden genannten Ärztinnen erneut als Zeugen vernommen. Dr. B. hat unter dem 12.12.2011 bekundet, sie behandle den Kläger seit 1990 hausärztlich; der Kläger wirke auf seine Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend, z. B. durch Geruchsbelästigungen durch Stuhlinkontinenz und unkontrollierten Abgang von Blähungen; es beständen eine schwere Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung und zwanghafte Phobien; der Kläger erscheine in ihrer Praxis allein. Dr. v. A. hat in ihrer Aussage vom 27.12.2011 angegeben, sie behandle den Kläger seit 2004 psychotherapeutisch, die Sitzungen fänden wegen des Gesundheitszustandes des Klägers in größeren Abständen statt; der Kläger habe Stuhlinkontinenzen und unkontrollierten Abgang von Luft, ferner unter anderem eine zwanghafte Phobie vor öffentlichen Toiletten, er komme zu den therapeutischen Sitzungen allein.

Die Angabe der Zeugin Dr. B., er sei - immer - allein in ihrer Praxis erschienen, hat der Kläger unter dem 05.01.2012 bestritten, er komme regelmäßig mit seinem Lebenspartner, der ebenfalls bei Dr. B. in Behandlung sei.

Auf Nachfrage des SG haben die beiden Ärztinnen erneut ausgesagt. Dr. v. A. hat unter dem 27.02.2012 bekundet, der Kläger warte in der Wartezone für durchschnittlich fünf bis zehn Minuten; eine Toilette sei in der Praxis frei zugänglich; er begegne in der Praxis sowohl Mitarbeitern als auch Mitpatienten; eine Sitzung dauere 50 min, der Kläger halte diese Zeit oft nicht durch und müsse zwischendurch zur Toilette gehen; der Kläger unterliege dem Zwang, dass eine Toilette ständig erreichbar sein müsse, ansonsten entwickelten sich massive Ängste, die ihn dazu brächten, die Veranstaltung zu verlassen oder gar nicht erst hinzugehen. Dr. B. hat mit Schreiben vom 01.03.2012 mitgeteilt, der Kläger warte durchschnittlich 15 min im Wartezimmer; die Toilette sei frei zugänglich; er begegne Mitarbeitern und anderen Patienten; die Termine dauerten 15 bis 20 min; der Kläger gehe zur Toilette, wenn er in die Praxis komme und bevor er sie verlasse, zum Teil auch zwischendurch; er könne wegen seiner Phobien an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen; die Colitis ulcerosa werde richtlinienkonform mit Imurek, Azulfidine und während eines Schubs mit Cortison behandelt.

Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Reiniger vom 02.05.2012 ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Das Merkzeichen "RF" sei nicht zuzuerkennen, dies gelte auch im Hinblick auf die Benutzung von Windelhosen; eine diesbezügliche Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch den Sozialstaatsgrundsatz.

Diesen Ausführungen Dr. D. ist der Kläger unter dem 22.05.2012 entgegengetreten. Insbesondere hat er ausgeführt, auch Windelhosen hielten gegen Gerüche und ggfs. Fäkalien nicht dicht.

Mit Urteil im schriftlichen Verfahren vom 15.08.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" seien nach § 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (Schwb-AwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gelte. Die Voraussetzungen des § 6 Nr. 7 RGebStV (Blindheit, Hörbehinderung) lägen nicht vor. Der Nachteilsausgleich stehe nach § 6 Nr. 8 RGebStV aber auch schwerbehinderten Menschen zu, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen sei; er müsse praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen könne, sei er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (Verweis u. a. auf BSG, Urt. v. 11.01.1991, 9a/9 RVs 15/89, Juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2011, L 8 SB 2294/10, Juris Rn. 35 ff.). Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Die wesentliche Beeinträchtigung folge insoweit aus der Colitis ulcerosa. Der Kläger könne zwar Stuhl- und Luftabgänge nicht unterscheiden. Auch leide er an Phobien. Er sei daher zwar in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Jedoch sei er nicht vollends an seine Wohnung gebunden. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen benutze der Kläger in den Praxen die dortigen Toiletten, die auch andere Patienten benutzt hätten. Auch könnten diese Toiletten aktuell von anderen Patienten besetzt sein. Trotzdem könne der Kläger mehr als 30 min in den Praxen verbringen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen seien Toiletten (in gleichem Maße) jederzeit erreichbar. Ferner stehe der unkontrollierte Abgang von Luft oder Stuhl der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegen. Beide Ärztinnen hätten insoweit keine Beeinträchtigungen durch den Kläger bekundet. Die Sitzungen bei Dr. v. A. dauerten sogar 50 min. Die Ärztinnen hätten lediglich diesbezügliche Befürchtungen des Klägers geschildert, jedoch kein tatsächliches Auftreten. Im Übrigen sei es behinderten Menschen mit Inkontinenzen stets zumutbar, Hilfsmittel zu verwenden, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Damit sei nicht zwingend eine Geruchsbelästigung verbunden. Der Kläger könne auch auf Veranstaltungen eine Toilette aufsuchen und die Einlagen bzw. Windelhosen wechseln. Dies sei zwar bei Veranstaltungen, auf denen längere Zeit gesessen werde, nur eingeschränkt möglich. Bei Zoo- oder Museumsbesuchen, Sport- oder Stadtfesten könne ein solcher Wechsel der Hilfsmittel aber zugemutet werden (Verweis auf Bayerisches LSG, Urt. v. 19.04.2011, L 15 SB 95/08, Juris Rn. 41 m.w.N.). Diese Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch das Sozialstaatsprinzip (Verweis auf BSG, Urt. v. 09.08.1995, 9 RVs 3/95, Juris Rn. 12). Die funktionsgerechte Benutzung eines üblichen Hilfsmittels mildere im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen der Behinderung.

Gegen dieses Urteil, das ihm am 17.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.09.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe vor 2001 versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen und dabei Stuhlinkontinenzen gehabt. Es sei ihm als 55-jährigem nicht zumutbar, Windelhosen zu benutzen; diese schützen ohnehin nicht vor Gestank. Er behauptet, er habe seit Anfang Juli einen akuten Schub der seit 1991 bekannten Colitis ulcerosa mit 35 Stuhlabgängen, davon 10 des nachts, und ungewollten Urinabgängen, vermischt mit Blut und Schleim, sehr dünnflüssig, gehabt. Hinzu kämen starke Schmerzen bei Stuhl- und Luftabgängen mit Erbrechen. Er habe - ausgehend von 95 kg bei 190 m Körpergröße - in kurzer Zeit 15 kg Körpergewicht verloren. Er habe zunächst täglich 280 mg Cortison, 400 mg Imurek, 4 x 2 Azulfidine und Ferro Sanol genommen. Seit dem 08.09.2012 nehme er 55 mg Cortison täglich. Er habe zwischenzeitlich wieder 5 kg zugenommen. Hierzu legt der Kläger Arztbriefe des Gastroenterologen Dr. E. vom 24.09.2012 und des Pathologen Dr. Outrata vom 20.09.2012 vor. Der Kläger trägt weiter vor, wegen des Imureks sei er extrem infektanfällig, auch deswegen müsse er öffentliche Veranstaltungen meiden. Er verweist auf die Urteile der Landessozialgerichte Rheinland-Pfalz (L 4 SB 224/05 v. 29.03.2006) und Niedersachsen-Bremen (L 9 SB 97/99 v. 18.12.2001).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 zu verpflichten, bei ihm ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.

Der Kläger hat sich zuletzt mit Schriftsatz vom 26.09.2012, der Beklagte unter dem 25.10.2012 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens "RF" in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen "RF" eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.

b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.

aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa: In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.

Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse "oft" die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und "manchmal" mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.

Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.

Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens "RF" im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer "Überforderung der Windelkapazität", die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).

bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).

Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen "RF" sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.

Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.

cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.

Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert. Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).

Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von "ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen" berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.

Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.

dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.

c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen "RF" nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.

2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.

3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.