LSG NS-B - Urteil vom 14.12.2005 - Az.: L 5 SB 173/04 -
Treten nach einer Wegstrecke von nur 20 m massive Schmerzen auf und ist die Wegstrecke wegen Luftnot auf 100 m beschränkt, begründet diese Einschränkung der Gehfähigkeit einen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG"; denn das damit erforderlich werdende Pausieren zwischen parkenden Fahrzeugen bzw. im allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr auf einem Parkplatz ist einem multimorbiden Betroffenen unzumutbar.
Tatbestand
Streitbefangen ist die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Auf den Antrag des 1927 geborenen Klägers auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) nach dem (damals noch geltenden) Schwerbehindertengesetz (SchwbG) und auf Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "RF" stellte der Beklagte nach Einholung von Befundberichten des HNO-Arztes Dr. H. (ohne Datum; Eingang beim Beklagten am 19. Juni 2000), des Augenarztes Dr. I. vom 16. Juni 2000 und des Internisten Dr. J. vom 26. Juni 2000 zunächst einen GdB von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" fest. Dagegen lehnte er die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G" und "aG" ab (Bescheid vom 23. November 2000). Im Laufe des Widerspruchsverfahrens stellte der Beklagte nach Einholung eines Befundberichtes des Orthopäden Dr. K. vom 8. Juni 2001 zusätzlich die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" fest (Teil-Abhilfebescheid vom 20. August 2001). Der weitergehende Widerspruch wurde unter Übernahme der Kosten des Vorverfahrens zu 1/3 zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2001).
Mit der am 29. November 2001 beim Sozialgericht (SG) Hannover erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung eines höheren GdB und die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" begehrt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er nicht in der Lage sei, auch nur kürzeste Wegstrecken ohne Inanspruchnahme technischer Hilfsmittel beschwerde- bzw. gefahrenfrei zurückzulegen. Gerade die Durchblutungsstörungen hätten zu einer massiven Beschwerdezunahme geführt. Nachdem im Klageverfahren Befundberichte des Orthopäden Dr. K. vom 20. Juni 2002 und des Internisten Dr. J. vom 10. Juli 2002 (nebst Anlagen) sowie die Gutachten des Internisten Dr. L. vom 19. August 2003 und der Augenärztin M. vom 5. März 2004 eingeholt worden waren, hat der Beklagte mittels Teil-Anerkenntnissen vom 15. Mai 2003 und 22. April 2004 den GdB mit Wirkung ab November 2002 mit 90 und mit Wirkung ab 1. März 2004 mit 100 bewertet. Diese Teil-Anerkenntnisse hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 16. Juli 2003 und 6. Mai 2004 angenommen. Der GdB-Bewertung des letzten Teil-Anerkenntnisses liegen folgende Gesundheitsstörungen zugrunde: 1. Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) laut Bescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 9. Juli 1952 (a) traumatische Hirnleistungsschwäche (b) Restschwäche einer linksseitigen Gliedmaßenlähmung mit Fühlstörungen nach Hirnquetschung bei Narbe des Hinterkopfes (c) Narbe re. Oberarm (d) Schwerhörigkeit hohen Grades mit Trommelfelldurchlöcherung links. Neigung zu Ohreiterungen (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 50), 2. Hörminderung beidseits (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 50), 3. praktische Blindheit rechts; Gesichtsfeldeinschränkung beidseits (verwaltungsinterner Einzel-GdB ab März 2004: 50), 4. Herz-Kreislaufschaden; koronare Herzkrankheit (verwaltungsinterner Einzel-GdB ab November 2002: 40), 5. umformende Veränderungen der Wirbelsäule und Gelenke (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 30), 6. Hirndurchblutungsstörung (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 20).
Das SG hat den Beklagten auf die weitergehende Klage zur Feststellung eines GdB von 100 bereits ab November 2002 (anstatt ab 1. März 2004) verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Diabeteserkrankung des Klägers bereits seit November 2002 insulinpflichtig sei, so dass der Gesamt-GdB bereits ab diesem Zeitpunkt 100 betrage. Dagegen hat das SG die auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger gehöre weder zu dem Kreis der Schwerbehinderten, der in der einschlägigen Verordnung ausdrücklich als anspruchsberechtigt genannt werde, noch könne er diesem Personenkreis hinsichtlich seiner Gehfähigkeit gleichgestellt werden. Eine solche Gleichstellung habe aus medizinischer Sicht der Sachverständige Dr. L. ausdrücklich verneint. Auch aus den Befundberichten des behandelnden Orthopäden Dr. K. (zumutbare Gehstrecke über 300 m ohne Hilfsmittel) und des behandelnden Internisten Dr. J. (Gehstrecke von 400 m mit Gehstock, danach Auftreten von Schmerzen) ergebe sich, dass die Gehfähigkeit noch nicht aufs Schwerste eingeschränkt sei.
Der Beklagte hat in Ausführung des Urteils des SG unter dem 13. Oktober 2004 einen Ausführungsbescheid erlassen (Feststellung eines GdB von 100 ab 1. November 2002).
Gegen das dem Kläger am 6. Oktober 2004 zugestellte Urteil richtet sich seine am Montag, den 8. November 2004 eingelegte Berufung. Er macht geltend, dass er keine auch nur kurze Wegstrecke schmerz- und gefahrenfrei allein zurücklegen könne. Er benutze bereits innerhalb der Wohnräume eine Gehhilfe oder halte sich an Gegenständen fest. Außer den Funktionsbeeinträchtigungen am Haltungs- und Bewegungsapparat müssten auch die Koronarbeschwerden Berücksichtigung finden.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Hannover vom 7. September 2004 abzuändern,
2. den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 23. November 2000 und 20. August 2001 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2001 sowie der angenommenen Teil-Anerkenntnisse vom 15. Mai 2003 und 22. April 2004 zu verpflichten, bei dem Kläger die Voraussetzungen zur Feststellung des Nachteilsausgleiches / Merkzeichens "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass die Gehfähigkeit des Klägers zwar erheblich eingeschränkt sei, er jedoch insoweit nicht einem Querschnittsgelähmten oder einem Doppeloberschenkelamputierten gleichgestellt werden könne (vgl. beratungsärztliche Stellungnahme der Medizinaldirektorin Dr. N. vom 31. Januar 2005). Zwar ergebe sich aus den im Laufe des Berufungsverfahren eingeholten Befundberichten, dass der Kläger seit Januar 2005 zusätzlich unter einer arteriellen Verschlusskrankheit leide, die einen zusätzlichen Einzel-GdB von 50 bedinge. Auch sei der Beklagte bereit, aufgrund dieser zusätzlichen Gesundheitsstörung (außerhalb des anhängigen Berufungsverfahrens) die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B" ab Januar 2005 festzustellen. Der Kläger sei jedoch nach wie vor in der Lage, zumindest kurze Strecken auch noch außerhalb des Hauses zu bewältigen (vgl. Stellungnahme der Medizinaldirektorin Dr. N. vom 25. April 2005).
Der erkennende Senat hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes Befundberichte der Orthopädin Dr. O. vom 3. März 2005 und des Internisten Dr. P. vom 8. April 2005 (nebst Arztbrief des Internisten, Angiologen und Phlebologen Prof. Dr. Q. vom 5. Januar 2005) eingeholt.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 30. August und 23. September 2005 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger betreffende Schwerbehinderten-Akte sowie die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie haben der Entscheidung zugrunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nur insoweit begründet, als dass der Kläger Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" ab 1. Januar 2005 hat. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist ausschließlich der Nachteilsausgleich "aG". Die Feststellung eines höheren GdB für zurückliegende Zeiträume hat der Kläger im Berufungsverfahren nicht geltend gemacht.
Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Nach Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 bis 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO, BAnz 1998, Beilage Nr. 246b und BAnz 2001, S. 1419) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die - auch aufgrund von Erkrankungen - dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Der Kläger gehört nicht zu der in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich genannten Gruppe von schwerbehinderten Menschen. Allerdings hat er aufgrund der Gleichstellungsklausel (Satz 3, letzter Teilsatz) Anspruch auf den Nachteilsausgleich "aG" ab 1. Januar 2005.
Bei der Prüfung einer Gleichstellung ist maßgeblich auf Satz 1 der o.g. Verwaltungsvorschrift abzustellen. Denn die in Satz 3 der VwV-StVO genannte Gruppe von Schwerbehinderten ist nicht homogen. Vielmehr können einzelne der in der Vorschrift genannten Schwerbehinderten bei einem Zusammentreffen von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler orthopädischer Versorgung nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, BSGE 90, 180; LSG Berlin, Urteil vom 25. März 2004 - L 11 SB 15/02). Es ist deshalb nicht erforderlich, dass der Betroffene - wie etwa ein Querschnittsgelähmter - nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen. Ausreichend ist vielmehr, dass er auch unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung gehen kann (BSG a.a.O.). Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich deshalb weder quantifizieren noch qualifizieren; eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt dazu grundsätzlich nicht. Entscheidend ist, dass die Gehfähigkeit so stark eingeschränkt ist, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BSG a.a.O., unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien).
Das SG hat zutreffend und nicht ergänzungsbedürftig ausgeführt, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung (September 2004) die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" beim Kläger nicht vorlagen. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf S. 7, 2. Absatz der angefochtenen Entscheidung verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Der Senat teilt die Rechtsauffassung des SG, dass bei einer Gehfähigkeit von über 300 m ohne Hilfsmittel bzw. einer Gehfähigkeit von ca. 400 m unter Verwendung eines Gehstocks und dem Auftreten von Schmerzen erst nach Zurücklegen dieser Wegstrecke die Gehfähigkeit nicht aufs Schwerste eingeschränkt ist.
Nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung ist es jedoch zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers gekommen: So wurde im Januar 2005 beim Kläger eine arterielle Verschlusskrankheit diagnostiziert (vgl. Arztbrief des Prof. Dr. Q. vom 5. Januar 2005). Allein diese neu hinzugetretene Gesundheitsstörung bewertet der Beklagte verwaltungsintern mit einem Einzel-GdB von 50 (vgl. Schriftsatz vom 27. Mai 2005 sowie beratungsärztliche Stellungnahme der Dr. N. vom 25. April 2005). Zur Gehfähigkeit teilt der behandelnde Internist Dr. R. mit, dass der Kläger dauerhaft auf eine Gehhilfe angewiesen sei, da es durch die Polyneuropathie der Füße und der Unterschenkel zu Vibrations-, Sensibilitäts- und Druckempfindungsstörungen komme. Dieser Effekt werde durch die Durchblutungsstörung noch verstärkt. Der Kläger leide bereits nach 20 m Gehstrecke unter Schmerzen in den Beinen. Die maximale Gehstrecke betrage wegen Luftnot 100 m. Der Kläger hat ergänzend vorgetragen, dass er auch bereits innerhalb seiner Wohnung eine Gehilfe benutze oder aber sich bei der Fortbewegung an Einrichtungsgegenständen festhalte (Berufungsbegründung vom 17. Dezember 2004).
Der erkennende Senat legt diese Angaben zur Gehfähigkeit des Klägers seiner Entscheidung zugrunde. Denn der Kläger ist bereits allein angesichts der Vielzahl der bei der GdB-Bewertung berücksichtigten Gesundheitsstörungen als multimorbid anzusehen. Die Gehfähigkeit ist eingeschränkt durch die kriegsbedingte linksseitige neurologische Symptomatik (der behandelnde Internist Dr. R. spricht sogar von einer Polyneuropathie), durch die Herzerkrankung, die Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen, die arterielle Verschlusskrankheit (zumindest seit Januar 2005) und das massive Übergewicht (110 kg bei einer Körpergröße von 1,68 m). Die Angaben des behandelnden Internisten Dr. R. zur Gehfähigkeit werden auch durch die Befundbeschreibung von Prof. Dr. Q. gestützt (bereits morgendliche Anschwellung des linken Sprunggelenks und des linken Unterschenkels; erhebliche Einschränkung der Sprunggelenksbeweglichkeit; Fußfehlstellung beidseits, vgl. Arztbrief vom 5. Januar 2005).
Die beim Kläger vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit (Auftreten massiver Schmerzen nach einer Wegstrecke von nur 20 m; maximale Wegstrecke infolge Luftnot: 100 m; Fortbewegung innerhalb der Wohnung mittels Gehhilfe bzw. mittels Abstützen an Einrichtungsgegenständen) begründet einen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleiches aG. Denn bei der Gleichstellungsklausel darf gerade nicht auf einzelne der in der o.g. Verwaltungsvorschrift genannten Gruppen von Schwerbehinderten abgestellt werden, wie z.B. die Gruppe der Querschnittsgelähmten oder der Doppeloberschenkelamputierten (so aber: Dr. N. in ihrer Stellungnahme vom 31. Januar 2005 und auch der Internist Dr. R. im seinem Befundbericht vom 8. April 2005). Vielmehr ist - wie bereits ausgeführt - der Einleitungssatz des Abschnitts II Nr 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr. 11 StVO maßgeblich, wobei bei dessen Anwendung der Gesetzeszweck des 9. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) hinreichend zu beachten ist (Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilnahme des Behinderten am Leben in der Gesellschaft). Dieser Gesetzeszweck kann bei außergewöhnlich gehbehinderten Schwerbehinderten insbesondere durch die Nutzung von sog. Behindertenparkplätzen erreicht werden. Erst durch die Vermeidung längerer Fußwege wird dem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen das Erreichen vieler z.B. öffentlicher und medizinischer Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht. Ob im Einzelfall die Gehbehinderung so stark ist, dass der Nachteilsausgleich aG zuerkannt werden kann, stellt sich damit letztlich als eine wertende Entscheidung dar, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Kriterium der Zumutbarkeit zu (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, a.a.O.).
Wäre der Kläger auf die Nutzung allgemeiner Parkmöglichkeiten angewiesen, müsste er praktisch ausnahmslos auf dem erforderlichen Fußweg zwischen Kraftfahrzeug und eigentlichem Ziel (z.B. Arztpraxis, Geschäft, Veranstaltungsort) Pausen einlegen. Denn der Kläger kann - sogar unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen bzw. eines Gehstocks - nur ca. 20 m ohne massive Schmerzen gehen. Nach 100 m zwingt die Luftnot zu einer Pause. Bereits aus der (sich nicht einmal mehr GdB-erhöhend auswirkenden) arteriellen Verschlusskrankheit mit einem Einzel-GdB von 50 resultiert eine Limitierung der schmerzfreien Gehstrecke auf 50 bis maximal 100 m (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SGB IX, hrsg. vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ausgabe 2004, S. 73). Da bei Großparkplätzen (wie z.B. bei Einkaufszentren oder Großveranstaltungen) die Entfernung zwischen Parkplatz und Eingang oftmals deutlich mehr als 100 m beträgt, wäre der Kläger bei Nutzung der allgemeinen Parkmöglichkeiten gezwungen, auf dem Fußweg zwischen Auto und Eingang noch auf dem Parkplatzgelände (u.U. sogar mehrfach) zu pausieren. Dieses Pausieren zwischen parkenden Fahrzeugen bzw. im allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr auf einem Parkplatz ist dem multimorbiden Kläger unzumutbar. Dem schwer gehbehinderten Kläger würde bei einer Versagung des Nachteilsausgleiches aG die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unzumutbar erschwert (vgl. hierzu erneut § 1 SGB IX). Die vom Beklagten vorgenommene restriktive Auslegung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" (" ... kann zumindest kurze Strecken auch noch außerhalb des Hauses bewältigen", vgl. Stellungnahme der Dr. N. vom 25. April 2005) berücksichtigt im vorliegenden Fall nach Auffassung des Senats auch nicht hinreichend die in § 1 Absatz 1 SGB I formulierten Ziele des Sozialgesetzbuches (Ausgleich besonderer Belastungen des Lebens; Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit; vgl. eingehend zu den sozialen Rechten zur Teilhabe behinderter Menschen: § 10 SGB I). Diese Ziele des Sozialgesetzbuches sind jedoch bei der Auslegung der Vorschriften aller Teile des SGB zu beachten; die sozialen Rechte sind möglichst weitgehend zu verwirklichen (§ 2 Abs. 2 SGB I). Zwar sprechen durchaus auch gewichtige Gesichtspunkte für eine restriktive Auslegung des Nachteilsausgleiches "aG" (wie insbesondere die Tatsache, dass Behindertenparkplätze nur beschränkt zur Verfügung stehen und deshalb bei einer zu großzügigen Vergabe des Nachteisausgleichs "aG" dem Kreis der vollständig gehunfähigen Behinderten u.U. zu wenig Behindertenparkplätze zur Verfügung stehen, vgl. hierzu BSG, Urteil vom 03.02.1988, SozR 3870 § 3 Nr. 28). Eine generell restriktive Normanwendung befreit jedoch nicht von der erforderlichen Einzelfallprüfung, in deren Rahmen insbesondere auch Zumutbarkeitskriterien zu beachten sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Teilerfolg des Klägers (zusätzliche Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "G" im Widerspruchsverfahren; Feststellung eines GdB von 100 ab November 2002 im Klage- und Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" ab 1. Januar 2005 im Berufungsverfahren).
Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen, welche konkreten Kriterien im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit längerer Wegstrecken zu berücksichtigen sind.