Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Versorgungsanspruch nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.

Die 1954 geborene Klägerin stellte am 08.10.1998 bei dem Versorgungsamt C den Antrag, ihr Versorgung nach dem OEG wegen psychischer Störungen als Folge eines sexuellen Missbrauchs im Kinderheim in den Jahren 1956 bis 1957 sowie körperlicher Misshandlungen durch die Eltern zu gewähren. Genauere Details der Tathergänge seien ihr erst in diesem Jahr bekannt geworden. Erinnerungsblitze bestünden seit 1995.

Das Versorgungsamt I, an das die Akten zuständigkeitshalber abgegeben wurden, holte schriftliche Aussagen der Eltern und der Schwester der Klägerin ein. Vorgänge zum Aufenthalt im angegebenen Kinderheim konnten trotz intensiver Bemühungen nicht beigezogen werden.

Mit Bescheid vom 22.02.2000 lehnte das Versorgungsamt den Antrag der Klägerin auf Entschädigung nach dem OEG ab, weil die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des OEG nicht erfüllt seien. Das Tatgeschehen sei nicht objektiv bewiesen, eine Gewalttat somit zulasten der Klägerin nicht nachgewiesen und nach Lage der Dinge auch nicht nachweisbar.

Den Widerspruch der Klägerin vom 08.03.2000 wies das Landesamt für Versorgung und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt mit Widerspruchsbescheid vom 03.11.2000 zurück.

Die Klägerin hat am 04.12.2000 Klage beim Sozialgericht Detmold (SG) erhoben.

Das SG hat die Verwaltungsakten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (heute: Deutsche Rentenversicherung Bund) beigezogen und ein psychotherapeutisches Gutachten von Frau F vom 28.05.2002 mit ergänzender Stellungnahme vom 18.11.2002 eingeholt sowie die Sachverständige in einem Termin am 04.12.2003 vernommen. Frau F hat eine chronisch komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und die schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE (heute: Grad der Schädigungsfolgen - GdS) mit 100 bewertet. Im Weiteren hat das SG einen Bericht der Klinik S vom 18.03.2004 und eine erneute ergänzende Stellungnahme der Frau F vom 18.11.2004 eingeholt. Der Beklagte hat den Schädigungstatbestand weiterhin als nicht bewiesen angesehen und auch die erforderliche Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs als nicht gegeben erachtet.

Mit Urteil vom 01.04.2005 hat das SG den Beklagten dazu verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung Beschädigtenversorgung nach einer MdE von 100 zu gewähren und sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Ausführungen der Frau F gestützt.

Hiergegen hat der Beklagte am 27.05.2005 Berufung eingelegt. Der sexuelle Missbrauch sowie die körperlichen Misshandlungen seien nicht mit dem notwendigen Vollbeweis nachgewiesen. Eine Nachweisführung sei auf der Grundlage des psychotherapeutischen Gutachtens und der beigezogenen Befundunterlagen nicht möglich. Von der bestehenden Gesundheitsstörung könne nicht auf einen ursächlichen Schädigungssachverhalt geschlossen werden. Auch die Sachverständige F selbst nehme nach der Wortwahl in ihrem Gutachten lediglich an, dass sie die Schädigungstatbestände für wahrscheinlich, nicht hingegen für (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) erwiesen halte. Im Übrigen habe sie die Angaben der Klägerin unkritisch und unreflektiert ihrer Meinungsbildung zugrunde gelegt, ohne Widersprüchlichkeiten zur Aktenlage zur Kenntnis zu nehmen oder zu hinterfragen. Gleiches gelte für die Entscheidung des Sozialgerichts.

Der Beklagte beantragt schriftlich,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 01.04.2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt schriftlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils für zutreffend.

Der zunächst zuständige 7. Senat des Landessozialgerichts hat die Eltern der Klägerin schriftlich befragt und sodann ein psychiatrisches Gutachten des Dr. E vom 03.04.2007 mit ergänzender Stellungnahme vom 12.06.2007 eingeholt. Der Sachverständige hat eine posttraumatische Belastungsstörung angenommen und mit einer MdE von 80 bewertet. Unter weiterer Berücksichtigung insbesondere eines Diabetes und eines Hüftleidens sei die MdE mit 100 festzustellen.

Anschließend hat der erkennende Senat ein nervenärztliches Gutachten des Dr. L vom 21.05.2008 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass er den Missbrauch für möglich bis für nicht unwahrscheinlich halte. Definitiv könne man den angegebenen Schädigungstatbestand wegen einer Vielzahl offener Fragen aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat im Weiteren ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E vom 13.05.2009 eingeholt. Diese hat angenommen, dass in der Zusammenschau der gesamten Symptome und dem komplexen Krankheitsbild der Klägerin von einer sexuellen Traumatisierung in der frühesten Kindheit ausgegangen werden müsse. In einem Termin zur Beweisaufnahme am 10.11.2009 hat der Senat die Eltern und die beiden Schwestern der Klägerin, Frau L und Frau S zur Kindheit der Klägerin vernommen und anschließend weitere ärztliche Berichte von 1995, 1997 und 1998 beigezogen sowie ein aussagepsychologisches Gutachten der Diplom-Psychologin N vom 08.03.2010 zur Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit der Aussage der Klägerin eingeholt. Die Sachverständige ist nach einem hypotheseprüfenden Verfahren, ausgehend von der Null-Hypothese, zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin zu den Schädigungstatbeständen um Pseudoerinnerungen handele. Die Klägerin sei im Zeitraum der geltend gemachten Ereignisse bereits nicht ausreichend aussagetüchtig gewesen. Im Allgemeinen ergebe sich eine Aussagetüchtigkeit bei Kindern nicht vor Abschluss des 4. Lebensjahres, da Ereignisse vorher nicht adäquat wahrgenommen und ins Gedächtnis aufgenommen werden könnten. Darüber hinaus habe die Klägerin auch im Zeitraum der Aussageerstattung nicht über eine ausreichende Aussagetüchtigkeit verfügt, weil sie hier nach Aktenlage aufgrund von Dissoziationen, Flashbacks und diffuser Angst mehr oder weniger ausgedehnten Beeinträchtigungen der Realitätskontrolle sowie Zeitgitter- und Konzentrationsstörungen sowie Beeinträchtigungen des bewusst zugänglichen autobiographischen Gedächtnisses unterlegen habe. Insgesamt sei den sachverhaltsbezogenen Bekundungen der Klägerin keine Zuverlässigkeit zu attestieren.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Zu Unrecht hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.11.2000 verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 10a OEG i.V.m. dem Einigungsvertrag vom 31.08.1990, Anlage 1 Kap. VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr. 18. Entsprechend ist das angefochtene Urteil des Sozialgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

Gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erhält Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach der Härteregelung des § 10a OEG gilt dies unter bestimmten Voraussetzungen auch für Personen, die wie die Klägerin eine Schädigung vor Mai 1976 geltend machen und dies in Verbindung mit dem Einigungsvertrag auch dann, wenn die Schädigung im Beitrittsgebiet erfolgt ist.

Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG sind nicht erfüllt. Die von der Klägerin geltend gemachten Missbrauchshandlungen sind nicht nachgewiesen, so dass es am Beweis eines rechtswidrigen Angriffs fehlt. Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine soziale Entschädigung nach dem OEG, zu denen das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs zählt, müssen nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R m.w.N., in SozR 3-3900 § 15 Nr. 3; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 128 Rn 3b). Dies ist hier nicht gegeben. Unter Würdigung aller Umstände ist es lediglich möglich, nicht aber in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin Opfer der von ihr geltend gemachten Missbrauchshandlungen gewesen ist. Urkundliche Nachweise für etwaige Auffälligkeiten während des Aufenthalts der Klägerin in der Wochenkrippe haben sich trotz intensiver Bemühungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nicht finden lassen. Die als Zeugen gehörten Eltern der Klägerin haben bekundet, in der fraglichen Zeit keine wesentlichen Veränderungen, insb. keine Verletzungszeichen festgestellt zu haben. Vielmehr habe sich die Klägerin normal entwickelt. Von Vorfällen in dem Heim sei ihnen weder zur damaligen Zeit noch später etwas zu Ohren gekommen. Körperliche Misshandlungen durch die Eltern in relevantem Umfang sind von diesen sowie von den Schwestern der Klägerin ebenso wie ein eventueller Missbrauch durch den Vater verneint worden. Bereits diese Aussagen erwecken Zweifel daran, dass Missbrauchshandlungen wie von der Klägerin angegeben stattgefunden haben und verhindern damit einen Vollbeweis der anspruchsbegründenden Angriffe.

Liegen - wie hier - Beweismittel vor und stützen diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, kann auch die Beweiserleichterung des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), das auch für Gewaltopfer gilt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25.01.2000, L 6 VG 76/96 m.w.N. zur Rspr des BSG), nicht greifen, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetzt. Selbst wenn man die Vorschrift ungeachtet dessen der Klägerin zugute kommen ließe, ist der Beweis der von ihr geltend gemachten schädigenden Ereignisse nicht geführt. Nach dem Gutachten der Sachverständigen N vom 08.03.2010, das diese nach eingehendem aussagepsychologischem Procedere bei hypothesengeleiteter Prüfung erstellt hat, bestehen Zweifel an der Aussagetüchtigkeit der Klägerin sowohl im Zeitpunkt der mutmaßlichen Vorfälle als auch im Zeitpunkt der Aussageentstehung und -entwicklung. Fehlt es aber an der Zuverlässigkeit der sachverhaltsbezogenen Bekundungen der Klägerin, scheiden ihre Sachverhaltsschilderungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung des Gerichts aus.

Dass die anspruchsbegründenden Tatsachen, insbesondere ein schädigendes Ereignis, nach alledem nicht bewiesen werden konnten, geht zu Lasten der Klägerin (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 103 Rn 19a m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.