Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 AS 1863/14 - Beschluss vom 08.10.2015
Dass der Gesetzgeber im Zuge des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 23.07.2013 mit Wirkung ab 01.08.2013 in Nr. 3106 Nr. 1 VV/RVG nunmehr eine der Nr. 3104 Nr. 1 Alt. 2 VV/RVG a.F. entsprechende Regelung auch für Verfahren, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, übernommen hat, bietet als solche und insbesondere auch in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte dafür, der Gesetzgeber habe seinerzeit bereits die Regelungen, so wie sie sich nach dem 01.08.2013 darstellen, auch für den davor liegenden Zeitraum verwirklicht gesehen oder sehen wollen - insoweit handele es nicht um eine Rechtsänderung, sondern lediglich eine Klarstellung. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung, "es sei sachgerechter, den schriftlichen Abschluss eines Vergleichs gebührenrechtlich nicht deshalb anders zu behandeln, wenn statt Wertgebühren Betragsrahmengebühren erhoben werden ", deutet eher darauf hin, es solle und werde nunmehr eine sachlich gerechtfertigte Angleichung von Gebührentatbeständen vorgenommen, d.h. die bisher maßgebliche Rechtslage werde geändert. Jedenfalls stützt dieser Hinweis in den Materialien nicht die Annahme, die neue Regelung habe nur deklaratorischen Charakter. Ebenso wenig kann ihm entnommen werden, der Gesetzgeber habe mit dem neuen Gesetz die Auffassung billigen wollen, die in der alten Fassung eine unbewusste, planwidrige Regelungslücke, die durch eine Analogie zu schließen sei.
Gründe:
I.
Streitig ist die Höhe der im Rahmen von Prozesskostenhilfe aus der Landeskasse zu erstattenden Rechtsanwaltsgebühren nach dem Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG - ).
Die durch den Beschwerdeführer vertretenen Kläger wandten sich wegen verschiedener Berechnungselemente der Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), u.a. der Stromkosten für die Warmwasserbereitung, durch Klage vom 26.01.2012 an das Sozialgericht (SG) Münster. Ihnen wurde durch Beschluss des SG vom 09.05.2014 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und der Beschwerdeführer beigeordnet. Das Verfahren endete durch (außergerichtlichen) Vergleich, den das SG durch Beschluss vom 20.05.2014 nach § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 278 Abs. 6 der Zivilprozessordnung (ZPO) feststellte.
Am 21.05.2014. hat die vom Bevollmächtigten durch Forderungsabtretung eingeschaltete private rechtsanwaltliche Verrechnungsstelle in N. (PVS RA GmbH) beim SG folgende Vergütungsfestsetzung beantragt:
Verfahrensgebühr Nr. 3103 Vergütungsverzeichnis zum RVG - VV/RVG 170,00 EUR Terminsgebühr Nr. 3106 VV/RVG: 200,00 EUR Gebühr für gerichtliches Verfahren, § 3 RVG Nr. 1006 VV/RVG 190,00 EUR Post- und Telekom-Pauschale Nr. 7002 VV/RVG 20,00 EUR Zwischensumme: 580,00 EUR Gesamt zzgl. 19 % Umsatzsteuer 690,20 EUR.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des SG hat die Vergütung mit Beschluss vom 23.05.2014 auf insgesamt 452,20 Euro festgesetzt. Die Terminsgebühr sei nicht entstanden. Eine der Nr. 3104 Abs. 1 Ziff. 1 3. Alt. VV/RVG entsprechende Regelung - Entstehen einer Terminsgebühr auch in den Fällen, in denen in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgesehen ist, ein schriftlicher Vergleich geschlossen wird - enthalte die Spezialvorschrift der Nr. 3106 VV RVG nicht. Daraus dürfe aber auch nicht der Schluss gezogen werden, dass insoweit eine Gesetzeslücke bzw. ein versehentliches Schweigen des Gesetzgebers vorliege.
Hiergegen hat der Beschwerdeführer am 05.06.2014 Erinnerung eingelegt. Die Absetzung der fiktiven Terminsgebühr sei nicht gerechtfertigt. Diese sei in der Vergangenheit zwar von der Rechtsprechung überwiegend, entgegen einigen Gerichten und der großen Mehrheit in der Literatur, zu Unrecht nicht anerkannt worden. Jedoch sei sie im neuen RVG ausdrücklich geregelt. Die Regelung sei keine Gesetzesänderung, sondern Ausdruck der Korrektur eines Redaktionsversehens. Deshalb sei auch für Fälle, die nach altem Recht zu beurteilen seien, nun die fiktive Terminsgebühr anzuerkennen.
Die Urkundsbeamtin hat der Erinnerung nicht abgeholfen. Das SG hat durch Beschluss vom 29.08.2014 die Erinnerung zurückgewiesen. Eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV/RVG sei nicht angefallen. Eine Analogie zu Nr. 3104 VV/RVG könne nicht gezogen werden, da diese allein wertabhängige Gebühren betreffe, mithin bei Betragsrahmengebühren - wie hier - schon keine planwidrige Regelungslücke bestanden habe.
Dagegen hat der Bevollmächtigte der Kläger am 26.09.2014 Beschwerde eingelegt und sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Der Bezirksrevisor als Vertreter der Staatskasse für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Nordrhein-Westfalen ist dem entgegen getreten. Er hat sich auf die angefochtene Entscheidung des SG bezogen und beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie des PKH-Beiheftes verwiesen. Dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Über die Beschwerde entscheidet der Senat mit drei Berufsrichtern, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 Satz 2 RVG).
Die wegen des Streits um eine sog. fiktive Terminsgebühr i.H.v. 200 Euro zzgl. Umsatzsteuer gemäß § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG erhobene Beschwerde des Klägerbevollmächtigten ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere steht die Abtretung der Forderung zum Zwecke der Einziehung an die PVS RA GmbH als private Verrechnungsstelle der Beschwerdebefugnis des Bevollmächtigten nicht entgegen. Insoweit bestimmt einerseits § 49b Abs. 4 S.2 Bundesrechtsanwaltsordnung - BRAO - in der Fassung vom 18.12.2007 -BGBl. I 2007, S. 2848, dass eine Abtretung oder Übertragung von Vergütungsforderungen an andere als Rechtsanwälte , also auch wie hier an eine Verrechnungsstelle, bei Einwilligung des Mandanten, die dem Rechtsanwalt die Forderungsabtretung oder die Übertragung zur Einziehung gestattet, grundsätzlich wirksam ist. Zum anderen hat sich der Beschwerdeführer kraft ausdrücklicher vertraglicher Vereinbarung mit der PVS RA GmbH vom 25.11.2010 im Innenverhältnis das Verfügungsrecht über die Forderung vorbehalten und ist dadurch zu gerichtlicher Geltendmachung von Rechtsmitteln gegen Gebührenkürzungen nach dem RVG hinreichend legitimiert.
Die Beschwerde ist unbegründet. Die im Rahmen der PKH aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung ist nicht höher als mit 690,20 Euro festzusetzen.
Mit Blick auf die hier allein streitige Terminsgebühr ist Rechtsgrundlage Nr. 3106 VV/RVG in der bis zum 31.07.2013 geltenden Fassung (a.F.). Die Rechtsänderungen zum 01.08.2013 durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungs-Gesetz vom 23.07.2013 (BGBl. I 2013, 2586) finden, obwohl während des anhängigen Klageverfahrens eingetreten, keine Anwendung, denn maßgeblich bleibt nach der hier einschlägigen Übergangsregelung in § 60 Abs. 1 S. 1 RVG die Gesetzesfassung, die zum Zeitpunkt der unbedingten Auftragserteilung bzw. Bestellung der Bevollmächtigten gegolten hat (ebenso LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 08.07. 2014 - L 5 SF 167/14 B E -, juris, vgl. LSG NRW Beschluss vom 26.01.2015 - L 2 AS 2237/14 B u.a., juris Rn. 4, 5; SG Cottbus, Gerichtsbescheid vom 04.03.2015 - S 5 R 550/14 -, juris Rn. 16, siehe auch Schafhausen, jurisPR-SozR 18/2013 vom 05.09.2013, Anm. 1). Vollmacht zur anwaltlichen Vertretung wurde hier dem Beschwerdeführer von allen Klägern bzw. für alle Kläger erkennbar vor dem 01.08.2013 erteilt.
Nach Nr. 3106 VV/RVG a.F. steht dem Beschwerdeführer keine Terminsgebühr zu. Nach dem eindeutigen Wortlaut ist, darüber besteht zwischen den Beteiligten Einigkeit, ist ein Gebührentatbestand nicht erfüllt. Der Bevollmächtigte hat die Kläger nicht in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin vertreten. Zudem ist keiner der in den damaligen Nummern 1 bis 3 enthaltenen Fälle einer fiktiven Terminsgebühr gegeben (vgl. ebenso LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 08.07.2014 - L 5 SF 167/14 B E -, juris).
Auch auf Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 1 3. Alternative VV-RVG (a.F.) kann der erhobene Anspruch nicht gestützt werden. Der Senat sieht keine Veranlassung von seiner bisherigen verneinenden Rechtsprechung abzuweichen (vgl. Beschlüsse vom 03.01.2011 - L 6 AS 1399/10 B, vom 11.05.2011 - L 6 AS 200/11 B; ebenso LSG NRW Beschlüsse vom 26.02.2014 - L 2 AS 432/13 B; vom 25.05.2012 - L 19 AS 449/12 B; vom 28.05.2010 - L 19 B 286/09 AS).
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers vermag der Senat ein Redaktionsversehen, das möglicherweise über eine authentische Interpretation abgedeckt werden könnte, nicht zu erkennen.
Die authentische Interpretation im streng methodischen Sinn ist keine Auslegung, sondern die verbindliche Festschreibung einer Deutung als Willenserklärung des Gesetzgebers. Zu einer solchen Deutung kann ungeachtet ihrer rechtlichen Tragweite nur der Gesetzgeber berechtigt sein, der das Gesetz verabschiedet hat, d.h. nur der Gesetzgeber derselben Legislaturperiode. Nur er kann "erklären", was er durch die (alte) gesetzliche Regelung verwirklicht wissen wollte und ob der neuen Regelung nur konstitutiver oder deklaratorischer Charakter zukommen soll. Diese Identität ist hier schon nicht gegeben.
Die Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation unterstellt wäre diese für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichtes ein, noch relativiert sie die verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Zur verbindlichen Auslegung einer Norm ist letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen, die gemäß Art. 92 GG den Richtern anvertraut ist (vgl. BVerfGE 65, 196 (215); 111, 54 (107)). Dies gilt auch für die Frage, ob eine Norm konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hat. Der Gesetzgeber ist zwar befugt, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu handeln, zu der auch die aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grenzen für rückwirkende Rechtsetzung gehören, und dabei gegebenenfalls eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist. Er kann diese Ausgangslage und die Prüfungskompetenz der Gerichte aber nicht durch die Behauptung unterlaufen, seine Norm habe klarstellenden Charakter. Eine durch einen Interpretationskonflikt zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung ausgelöste Normsetzung ist nicht anders zu beurteilen als eine durch sonstige Gründe veranlasste rückwirkende Gesetzesänderung (BVerfG Beschluss vom 21.07.2010 - 1 BvL 11/06 u.a.; juris Rn 73; vgl. LVerfG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 15. Januar 2002 - LVG 3/01, LVG 5/01 -, juris, Rn. 60).
Dass der Gesetzgeber im Zuge des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 23.07.2013 mit Wirkung ab 01.08.2013 in Nr. 3106 Nr. 1 VV/RVG (n.F.) nunmehr eine der Nr. 3104 Nr. 1 Alt. 2 VV/RVG a.F.) entsprechende Regelung auch für Verfahren, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, übernommen hat, bietet als solche und insbesondere auch in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien keine Anhaltspunkte dafür, der Gesetzgeber habe seinerzeit bereits die Regelungen, so wie sie sich nach dem 01.08.2013 darstellen, auch für den davor liegenden Zeitraum verwirklicht gesehen oder sehen wollen - insoweit handele es nicht um eine Rechtsänderung, sondern lediglich eine Klarstellung. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung, "es sei sachgerechter, den schriftlichen Abschluss eines Vergleichs gebührenrechtlich nicht deshalb anders zu behandeln, wenn statt Wertgebühren Betragsrahmengebühren erhoben werden (vgl. BT-Drs. 14/11471 S. 274)", deutet eher darauf hin, es solle und werde nunmehr eine sachlich gerechtfertigte Angleichung von Gebührentatbeständen vorgenommen, d.h. die bisher maßgebliche Rechtslage werde geändert. Jedenfalls stützt dieser Hinweis in den Materialien nicht die Annahme, die neue Regelung habe nur deklaratorischen Charakter. Ebenso wenig kann ihm entnommen werden, der Gesetzgeber habe mit dem neuen Gesetz die Auffassung billigen wollen, die in der alten Fassung eine unbewusste, planwidrige Regelungslücke, die durch eine Analogie zu schließen sei (vgl. z.B. SG Oldenburg Beschluss vom 14.03.2012 - S 10 SF 170/11 E, juris; kritisch dazu: LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 20.07.2015 - L 7/14 AS 64/14 B -, juris Rn. 18 ff., 25 - 31,mwN), ausgemacht hatte (vgl. auch LSG Sachsen Beschluss vom 09.03.2015 - L 8 AS 951/13 B KO -, juris Rn. 16 ff., 25, m.w.N.: keine klare Aussage zum maßgeblichen Willen des Gesetzgebers im Zeitpunkt des Erlasses der hier streitigen Norm). Bei einer lediglich deklaratorischen Gesetzesänderung hätte es der Übergangsregelung des § 60 Abs. 1 S. 1 RVG ( jedenfalls in dieser Form -) nicht bedurft.
Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die ursprünglich fehlende Erwähnung des schriftlichen Vergleichs in Nr. 3106 VV/RVG a.F. (auch) darauf beruhte, dass es bis zur Einfügung des § 101 Abs. 1 S. 2 SGG mit Wirkung vom 25.10.2013 (durch das BUK-Neuordnungsgesetz vom 19.10.2013 - BGBl. I 2014 S. 3836) keine ausdrückliche Regelung für einen schriftlichen Vergleich im sozialgerichtlichen Verfahren gab (vgl. bereits Sächsisches LSG - Beschluss vom 09.02.2010 - L 6 AS 438/10 B KO, juris Rn. 41 ff.). Änderungen bei den Gebühren kommen wegen der Neuregelung in § 101 Abs. 1 S. 2 SGG auch erst für Fälle ab Inkrafttreten des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes zum 01.08.2013 in Betracht (vgl. auch dazu Schafhausen ASR 2014, 254 ff. , 259).
Das Verfahren ist gebührenfrei (§ 56 Abs. 2 RVG).
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 56 Abs. 2 Satz 3 RVG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).