L 6 RJ 328/03 LSG Thüringen - Urteil vom 18. August 2003
Sind zum Zeitpunkt der Sitzung 22 Monate seit der Untersuchung und Feststellung des gesundheitlichen Zustandes des Klägers durch Gutachten vergangen, muss sich das Gericht gedrängt fühlen, im Rahmen der Amtsermittlung (§ 103 SGG) eine - mögliche - Veränderung des Gesundheitszustandes des Klägers zu überprüfen und zwar vor allem durch Einholung von aktuellen Befundberichten der behandelnden Ärzte. Diese dienen vor allem der Überprüfung, ob Anhaltspunkte für weitere medizinische Ermittlungen (z. B. Gutachten) bestehen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung hat.
Der 1960 geborene Kläger ist gelernter Landmaschinenschlosser und war bis Ende 2000 als Schlosser beschäftigt. Seitdem ist er arbeitslos gemeldet bzw. arbeitsunfähig krank.
Auf den Rentenantrag vom März 2001 holte die Beklagte nach Beiziehung eines Befundberichts des Dr. L. ein orthopädisches Gutachten des Dr. K. vom 20. Juni 2001 ein (Diagnosen: Thorakolumbalskoliose, Osteoporose, muskuläre Dysbalance), nach dem der Kläger noch leichte Tätigkeiten im Gehen, Stehen und Sitzen sechs Stunden/Tag verrichten könne. Nicht mehr möglich seien schweres Heben und Tragen, Zwangshaltungen, häufiges Bücken und Arbeiten auf unebenem Gelände.
Mit Bescheid vom 9. Juli 2001 lehnte die Beklagte eine Rente wegen voller und teilweiser Erwerbsminderung sowie Berufsunfähigkeit ab.
Auf den Widerspruch des Klägers zog die Beklagte unter anderem Unterlagen des Berufsförderungswerks G. über die Berufsfindung/Arbeitserprobung vom 4. bis 8. März 2002 bei. Nach der arbeitspsychologischen Stellungnahme des Dipl.-Psychologen S. vom 14. März 2002 verfügt der Kläger nicht über die intellektuellen Voraussetzungen für eine Ausbildung auf Facharbeiterebene. Anlernausbildungen bzw. Teilqualifikationen im handwerklich-technischen Bereich seien angesichts seiner gesundheitlichen Einschränkungen verworfen worden. Nach der undatierten Stellungnahme der Dres. F. zeigte sich bei dem Kläger eine deutlich beeinträchtigte Leistungsfähigkeit; der Abbruch der Arbeitserprobungsmaßnahme erfolgte vorzeitig aus gesundheitlichen Gründen.
Mit Bescheid vom 11. Juli 2002 erklärte sich die Beklagte bereit, dem Kläger ab 1. April 2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren und wies mit Widerspruchsbescheid vom 8. August 2002 im Übrigen den Widerspruch zurück.
Am 9. September 2002 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Klage eingelegt und eine Begründung mit gesonderten Schriftsatz angekündigt. Mit Urteil vom 6. März 2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und ausgeführt, die Beweisaufnahme durch das Gericht habe ergeben, dass der Kläger trotz seiner Erkrankungen noch am Erwerbsleben teilnehmen könne. Nach dem Gutachten des Dr. K. könne der Kläger noch körperlich leichte Arbeit sechs Stunden und mehr verrichten.
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und ausgeführt, aus ärztlicher Sicht lasse die idiopathische Osteoporose mit zunehmender Verschlechterung der Knochendichtewerte keine Tätigkeit von sechs Stunden und mehr zu. Dies bestätige der beigefügte ärztliche Bericht des Dr. L.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 6. März 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. August 2002 zu verurteilen, dem Kläger ab 1. April 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 6. März 2003 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchs- und Klageverfahren.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Auf die zulässige Berufung ist das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die Entscheidung des Sozialgerichts aufheben und die Sache an das Gericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Wesentlich ist der Mangel, wenn das Urteil des Sozialgerichts auf ihm beruhen kann (vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 7. Auflage 2002, § 159 Rdnr. 3a). Dabei ist (nur) auf die Rechtsauffassung des Sozialgerichts abzustellen.
Hier beruht das Urteil des Sozialgerichts auf solchen Mängeln. Das Sozialgericht hat erheblich gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG verstoßen, weil es nicht den für die Entscheidung relevanten medizinischen Sachverhalt ermittelt hat. Nicht angegeben hat es teilweise die Gründe für seine richterliche Überzeugung (Verstoß gegen § 128 SGG).
Ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung richtet sich nach § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch i. d. F. ab 1. Januar 2001 (SGB VI). Neben der Wartezeit und den Pflichtbeiträgen von drei Jahren in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Versicherungsfalls muss volle Erwerbsminderung vorliegen (Satz 1). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Satz 2). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können (Satz 3 Nr. 1).
Die Beschwerden des Klägers und dem Grund für die Klageerhebung hat das Sozialgericht ebenso wenig aufgeklärt wie sein aktuelles körperliches Leistungsvermögen. Bereits die Vorgehensweise der Vorinstanz verstößt erheblich gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG. Angesichts der mit Schriftsatz vom 9. September 2002 angekündigten Klagebegründung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hätte das Sozialgericht entweder diese abwarten oder eine Frist für die Erledigung setzen müssen. Die Begründung hätte es nach ihrem Eingang darauf überprüfen müssen, ob sie ausreichend Anhaltspunkte dafür bietet, weitere Ermittlungen zum Leistungsvermögen des Klägers anzustellen.
Auch hätte sich das Sozialgericht angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Sitzung ca. 22 Monate seit der Untersuchung und Feststellung des gesundheitlichen Zustandes durch Dr. K. im Mai 2001 vergangen waren, gedrängt fühlen müssen, im Rahmen der Amtsermittlung (§ 103 SGG) eine - mögliche - Veränderung des Gesundheitszustandes des Klägers zu überprüfen und zwar vor allem durch Einholung von aktuellen Befundberichten der behandelnden Ärzte. Diese dienen vor allem der Überprüfung, ob Anhaltspunkte für weitere medizinische Ermittlungen (z. B. Gutachten) bestehen. Voraussetzung für die Beiziehung dieser Unterlagen wäre die Vorlage einer Erklärung des Klägers über die Entbindung dieser Ärzte von der ärztlichen Schweigepflicht gewesen. Das Sozialgericht hat weder diese noch die erforderlichen Befundberichte angefordert. Die im Urteil behauptete "Beweisaufnahme" erstreckte sich lediglich auf die Anforderung der Beklagtenakte und deren Durchsicht und genügt den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermittlung nicht.
Der Akte des Sozialgerichts und der Niederschrift der Sitzung vom 6. März 2003 sind keine Anhaltspunkte für die Gründe der Klageerhebung zu entnehmen und damit auch nicht für einen Vortrag, dass eine Gesundheitsverschlechterung nicht vorliege. Nur dann wäre bei dem hier vorliegenden Zeitablauf eine Pflicht zur Ermittlung einer Gesundheitsverschlechterung von Amts wegen ausgeschieden.
Die Behauptung des Sozialgerichts, der Kläger könne trotz seiner Erkrankungen noch am Erwerbsleben teilnehmen und sei in der Lage, leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung sechs Stunden und mehr zu verrichten, konnte lediglich mit dem Gutachten des Dr. K. belegt werden. Aktuelle Unterlagen lagen nicht vor. Die Behauptung zum aktuellen Gesundheitszustand des Klägers beinhaltet damit eine vorweggenommene Beweiswürdigung und einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG.
Da das Sozialgericht damit das aktuelle Leistungsvermögen des Klägers aufgrund eigener Sachkunde beurteilt hat, hätte es zudem mitteilen müssen, aufgrund welcher Erkenntnisse und Erfahrungen diese beruht (Verstoß gegen § 128 SGG). Dies ist nicht geschehen.
Diese aufgeführten erheblichen Verfahrensmängel rechtfertigen die Zurückverweisung des Rechtsstreites. Eine Entscheidung des Senats in der Sache würde dem Gebot eines effektiven Rechtsschutzes widersprechen. Dann würde den Beteiligten eine Instanz verloren gehen. Zudem wäre die Berufungsinstanz gezwungen, praktisch alle erstinstanzlichen Ermittlungen durchzuführen und deren Aufgaben wahrzunehmen. Durch die Zurückverweisung verbleibt den Beteiligten die Möglichkeit, ihren Anspruch ggf. in zwei Tatsacheninstanzen überprüfen zu lassen.
Die Vorinstanz wird zur Vorbereitung der erneuten Entscheidung den nunmehr vorliegenden Sachvortrag des Klägers berücksichtigen, eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht der behandelnden Ärzte anfordern, aktuelle Befundberichte der behandelnden Ärzte (zumindest Dr. L. und Dr. J.) einholen und - sofern sich aus diesen Anhaltspunkte für eine Verschlechterung, eine wesentliche Einschränkung auf einem anderen Fachgebiet oder eine Fehleinschätzung des Dr. K. ergeben - zusätzlich ein Gutachten nach § 106 SGG beauftragen.
Das Sozialgericht hat bei der erneuten erforderlichen Entscheidung über den Rechtsstreit auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.