Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 SB 49/07 - Urteil vom 09.12.2008
Bei gelegentlichen unwillkürlich und unkontrollierbar auftretenden Stuhlabgängen muss der Betroffene zwar immer damit rechnen, dass es zu einem plötzlichen Stuhlabgang kommen kann. Wenn der Betroffene wegen dieser Gefahr öffentliche Veranstaltungen möglichst meidet, mag dies aus seiner Sicht nachvollziehbar sein. Die Voraussetzungen für "RF" werden hierdurch aber nicht erfüllt, allein die Vorstellung, "es könnte etwas passieren", reicht nicht aus.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob der 1932 geborene Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) nach dem Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) erfüllt.
Zuletzt war mit Bescheid vom 14.10.2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von
100 zuerkannt worden wegen der Behinderungen:
1.Operiertes
Vorsteherdrüsenleiden mit Vorsteherdrüsenverlust, Op. 12/2003 (Einzel-GdB 80)
2.Schmerzkrankheit, psychosomatische Störungen, Gesichtsnervenschmerz (Einzel-GdB
30)
3.Bandscheibenoperation (Einzel-GdB 30)
4.Stoffwechselstörung, Gicht (Einzel-GdB
10)
5.Schwerhörigkeit beiderseits, Tinnitus beiderseits, Nasopharyngitis (Einzel-GdB
10)
6.Bluthochdruck (Einzel-GdB 10)
Der Änderungsantrag des Klägers von März 2005 wurde nach Auswertung ärztlicher Unterlagen mit Bescheid vom 07.07.2005 abgelehnt. Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger unter Hinweis auf eine Stuhl- und Harninkontinenz den Nachteilsausgleich "RF" geltend. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.2005 zurückgewiesen. Zwar bestehe eine Stressinkontinenz, die gesundheitlichen Voraussetzungen für "RF" seien aber nicht erfüllt.
Mit der am 08.09.2005 erhobenen Klage hat der Kläger weiterhin die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF" begehrt. Er hat er die Auffassung vertreten, dass die Urin- und Stuhlinkontinenz, die nach der intensiven Bestrahlungstherapie des Krebsleidens aufgetreten sei, nicht hinreichend gewürdigt worden sei. Zunehmend würden nicht kontrollierbare Urin- und Stuhlabgänge auftreten. Unregelmäßig und plötzlich verspüre er einen starken Harn- und Stuhlgang. Deswegen könne er keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen. Eine Verzögerung des Toilettengangs um mehr als 5 bis 10 Minuten könne im wahrsten Sinne schon "in die Hosen bzw. Windeln gehen". Letzteres sei auch schon passiert, so beispielsweise in der S-Bahn und auch bei einer Konfirmationsfeier in der Verwandtschaft. Weil ihm Wärme spürbar gut tue, fahre er in der kostengünstigen Vor- und Nachsaison mit einem kleinen Wohnwagen, in dem er seine eigenes Chemietoilette habe, nach Kroatien. Er sei zwar mobil. Es sei aber sehr unangenehm, dass er stets damit rechnen müsse, dass er den Stuhl nicht halten könne. Die Mitmenschen hätten da wenig Nachsehen. Er meine, dass ihm irgendwie geholfen werden müsse. Zur Stützung seines Vorbringens hat er einen Bericht des Arztes für Urologie Dr. R. vom 21.07.2006 vorgelegt, in dem eine plötzlich auftretende Harn- und Stuhlinkontinenz beschrieben ist. Demgegenüber hat der Beklagte weiterhin die Auffassung vertreten, dass der Kläger grundsätzlich noch öffentliche Veranstaltungen besuchen könne.
Das Sozialgericht hat Befundberichte des Arztes für Innere Medizin Dr. Z. vom 05.12.2005 und Arztes für Urologie Dr. T. vom 23.01.2006 eingeholt.
Mit Urteil vom 01.03.2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG - (Urteil vom 28.06.2001, B 9 SB 2/00 R) eng auszulegenden Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" seien nicht erfüllt. Der Kläger sei nicht an das Haus gebunden. Er sei mobil. Zwar sei es nachvollziehbar, dass ein unkontrollierter Stuhlabgang den Kläger psychisch belaste. Dennoch sei er aber zumindest in der Lage, an solchen öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen eine Toilette schnell zu erreichen sei. Hygieneartikeln sowie ggf. auch Wechselwäsche könne er bei sich führen. Auch ließen sich in dem Fall, dass der Kläger nicht rechtzeitig zur Toilette komme, die Probleme durch das Tragen von Windelhosen deutlich verringern. Ein Windelwechsel und eine Reinigung mit Feuchttüchern in einer Toilette seien grundsätzlich möglich. Gegen das am 30.03.2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 24.04.2007 eingelegte Berufung des Klägers. Er meint weiterhin, dass ihm der Nachteilsausgleich "RF" zustehe. Wegen der Stuhlinkontinenz könne er nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Der Stuhlgang setze oftmals innerhalb weniger Sekunden ein und wiederhole sich mehrere Male. Trotz Windelhosen komme es zu erheblichen Geruchsbelästigungen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 01.03.2007 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.08.2005 zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Im Berufungsverfahren ist ein Bericht des Arztes für Urologie Dr. T. vom 08.12.2008 eingeholt worden.
Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind gegeben. Richtiger Beklagter im Berufungsverfahren ist seit dem 01.01.2008 der für den Kläger örtlich zuständige XY-Kreis (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Urteil des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06 - Revisions-Az.: B 9 SB 1/08 R; Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 - Revisions-Az.: B 9 SB 3/08 R; Urteil vom 11.03.2008, L 6 V 28/07 - rechtskräftig; Urteil vom 11.03.2008, L 6 (10) VS 29/07 (vgl. auch den zwischenzeitlichen Terminbericht des Bundessozialgerichts (BSG) zum Revisions-Az.: B 9 VS 1/08 R, Nr. 54/08); die Entscheidungen des Senats sind im Internet unter www.sozialgerichtsbarkeit.de abrufbar).
Die danach zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger kann nicht beanspruchen, dass der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX feststellt und das Merkzeichen "RF" gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung in den Schwerbehindertenausweis einträgt. Die im Rundfunkgebührenstaatsvertrag festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht sind nicht gegeben. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 8 dieses Vertrages werden von der Rundfunkgebührenpflicht befreit Behinderte, denen nicht nur vorübergehend ein Grad der Behinderung von wenigstens 80 zuerkannt ist und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Gebührenbefreiungsvorschrift eng auszulegen. Dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang ist danach nur dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden allgemein und umfassend vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Dies ist zu verneinen, wenn der Schwerbehinderte mit Hilfe technischer Hilfsmittel und/oder einer Begleitperson, an einer noch nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann. Regelmäßig sind die Voraussetzungen nur dann zu bejahen, wenn der Schwerbehinderte praktisch an das Haus gebunden ist (vgl. BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 2/96 = BSG SozR 3 - 3870 § 4 Nr. 17; Urteil vom 03.06.1987, 9 a RVs 27/85 = BSG SozR 3870 § 3 Nr. 25).
Wie vom Sozialgericht zutreffend dargelegt, erfüllt der Kläger diese engen Voraussetzungen nicht.
Auch unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers im Termin vor dem Senat und des weiteren Berichtes des Dr. T. vom 08.12.2008 ist der Kläger nicht allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Zwar ist davon auszugehen, dass gelegentlich unkontrollierbare Stuhlabgänge auftreten. So beschreibt Dr. T. , dass ein plötzlicher unwillkürlicher Stuhlabgang etwa einmal wöchentlich auftritt. Auch der Kläger hat im Termin angegeben, dass er manchmal eine Woche Ruhe habe. In den dazwischen liegenden Zeiten, also manchmal über eine ganze Woche lang, ist der Besuch öffentlicher Veranstaltungen ohne weiteres möglich. Zwar muss der Kläger immer damit rechnen, dass es zu plötzlichen unwillkürlichen Stuhlabgängen kommen kann. Wenn der Kläger wegen der "Gefahr, sich in die Hose zu machen" öffentliche Veranstaltungen möglichst meidet, mag dies aus seiner Sicht nachvollziehbar sein. Die Voraussetzungen für "RF" werden hierdurch aber nicht erfüllt. Allein die Vorstellung, "es könnte etwas passieren", reicht nicht aus. Aus dem subjektiven Empfinden eines Behinderten an öffentlichen Veranstaltungen nicht partizipieren zu können folgt nicht, dass ein Besuch unzumutbar ist (BSG, Urteil vom 09.08.1995, 9 RVs 3/95; BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 2/96; BSG, Urteil vom 10.08.1993, 9 RVs 7/91; BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 SB 2/00 R, JURIS).
Wegen der Gefahr eines unwillkürlichen Stuhlabgangs ist der Kläger gehalten, Großveranstaltungen und Veranstaltungen, bei denen eine Toilette nur schwer zu erreichen ist, zu meiden. Hierdurch ist ihm aber nur ein Segment aus dem Kreis in Betracht kommender öffentlicher Veranstaltungen verschlossen. Denn es gibt eine Vielzahl von Veranstaltungen für kleinere Besucherkreise, die für Senioren und behinderte Menschen angeboten werden, die keine längere Anwesenheit erfordern. Diese Veranstaltungen finden zur Geselligkeit (Kaffeetafeln) sowie auf kulturellem (Ausstellungen, Lesungen), religiösem oder wissenschaftlichem Gebiet statt. Auch kann bei diesen Veranstaltungen zu jeder Zeit und schnell eine Toilette aufgesucht werden.
Anders als der Kläger meint, sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für "RF" nicht unter dem Gesichtspunkt erfüllt, dass er auf seine Umgebung in einem solchen Maße unzumutbar störend wirkt, wie dies z.B. bei Behinderten mit unzureichend verschließbarem Anus-praeter durch Geruchsbelästigung der Fall ist. Im Unterschied zu diesen Behinderten ist hier die Geruchsbelästigung nicht ständig vorhanden, sondern allenfalls dann, wenn "es gerade in die Hose gegangen sein sollte". Falls dies dem Kläger beim Besuch einer der genannten Veranstaltungen passieren sollte - was nach der von Dr. T. geschilderten Frequenz der plötzlichen unwillkürlichen Stuhlabgänge eher unwahrscheinlich ist - , kann er sich, worauf bereits das Sozialgericht zu Recht hingewiesen hat, auf der Toilette z. B. mit Feuchttüchern reinigen und die Windeln wechseln. Auch beim Besuch derartiger Veranstaltungen kann der Kläger eine Tasche mit den den hierfür notwendigen Utensilien sowie Ersatzwäsche usw. mit sich führen, wie er es nach seinen Angaben im Termin bei seinen gelegentlichen Aktivitäten macht. Soweit der Kläger angibt, dass er nur Vorlagen trage, weil ihm Windelhosen zu aufwändig seien und weil das nicht besonders gut aussehe, ist dies unbeachtlich. Jedenfalls ist das Tragen von Windelhosen, die die gegebenenfalls auftretenden Probleme insbesondere bei nur geringfügigen Stuhlabgängen jedenfalls mindern können, zumutbar.
Im Übrigen verdeutlichen die sonstigen Aktivitäten des Klägers, dass er nicht im Sinne der o.a. höchstrichterlichen Rechtsprechung "praktisch an das Haus gebunden ist". So geht der Kläger selbst einkaufen, ist häufiger mit dem Auto unterwegs und fährt unter anderem mit dem Wohnwagen in Urlaub nach Kroatien.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 Nr.1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.