Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 SB 85/07 - Urteil vom 15.09.2009
Ein Diabetes mellitus ohne Insulintherapie, ohne instabile Stoffwechsellage und ohne relevante Zuckerentgleisungen ist mit einem GdB von 10 zu bewerten.
Tatbestand:
Streitig ist der Grad der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Der 1948 geborene Kläger beantragte am 02.08.2004 bei dem damaligen Versorgungsamt D. erstmals die Feststellung seines GdB nach dem SGB IX. Nach Beiziehung von Arztberichten erfolgte eine versorgungsärztliche Auswertung. Sodann erging am 20.09.2004 der Bescheid, mit dem der GdB ab Antragstellung mit 30 festgestellt wurde. Dabei wurden folgende Gesundheitsstörungen berücksichtigt: Sehminderung (Einzel-GdB 30), Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), leichtgradige psychische Störung (Einzel-GdB 10). Den hiergegen am 22.10.2004 vom Kläger mit der Begründung erhobene Widerspruch, nach den "GdB-Tabellen" sei seine Behinderung unterbewertet, hat die Bezirksregierung Münster ohne weitere Berichtsbeiziehung am 25.02.2005 als unbegründet zurückgewiesen und ausgeführt, der GdB 30 entspreche dem derzeitigen Gesundheitszustand und sei nicht zu beanstanden.
Hiergegen hat der Kläger am 29.03.2005 bei dem Sozialgericht (SG) D. Klage erhoben. Zur Begründung hat er erneut dargelegt, seine tatsächlichen Erkrankungen seien nicht in vollem Umfang berücksichtigt worden. Zudem hat er auf ein Rentenstreitverfahren beim SG D., S 34 RJ 139/99, mit medizinischen Gutachten zum Ausmaß seiner Erwerbsminderung hingewiesen.
Das SG hat die Akten zum Rentenverfahren beigezogen. Dort war ein nervenärztliches Gutachten von Prof. Dr. B. vom 05.11.2000 sowie ein augenärztliches Gutachten von Dr. St. vom 31.10.2000 eingeholt worden. Danach hatte der Kläger die dortige Klage zurückgenommen. Zudem hat das SG Befundberichte eingeholt vom behandelnden Allgemeinmediziner, dem Lungenfacharzt Dr. O. sowie dem Orthopäden Dr. R.. Anschließend hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Gutachtens von Herrn B. S. (Diplom-Psychologe, Arzt für Innere Medizin und Sozialmedizin) vom Gutachtendienst der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See in C.. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 08.02.2007 unter Berücksichtigung der Sehminderung (Einzel-GdB 30), des Bluthochdrucks (Einzel-GdB 10) und einer leichtgradigen psychischen Störung (Einzel-GdB 10) seit August 2004 den Gesamt-GdB 30 für angemessen erachtet.
Der Kläger hat eine ärztliche Verordnung vom 16.05.2007 für ein nCPAP-Gerät wegen seines Schlafapnoe-Synroms vorgelegt. Im Hinblick darauf hat die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 24.05.2007 ein Anerkenntnisangebot dahingehend abgegeben, den GdB ab Mai 2007 mit 40 festzustellen. Dies hat der Kläger zur teilweisen Erledigung des Rechtsstreits angenommen.
Im Übrigen hat das SG die weitergehende, auf den GdB 50 gerichtete Klage mit Urteil vom 24.05.2007 als unbegründet abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt dieser Entscheidung.
Gegen das dem Kläger am 21.06.2007 zugestellte Urteil richtet sich seine am 20.07.2007 eingelegte Berufung. Zu deren Begründung trägt er vor, er leide zusätzlich an Herzrhythmusstörungen, Kreislaufbeschwerden sowie einer Sehminderung insbesondere des linken Auges mit funktioneller Einäugigkeit und aufgehobenem räumlichen Sehen. Des weiteren ist er unter Bezug auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - der Auffassung, das Vorliegen der Behinderung wegen des Schlafapnoe-Syndroms sei schon für Zeiten vor der ärztlichen Verordnung des nCPAP-Geräts im Mai 2007 medizinisch zu überprüfen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts D. vom 24.05.2007 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 20.09.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2005 zu verurteilen, bei ihm ab Antragstellung (= 02.08.2004) den Grad der Behinderung 50 anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts D. vom 24.05.2007 zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, Art und Ausmaß der bestehenden Gesundheitsstörungen seien für die Zeit ab dem Erstantrag zutreffend bewertet worden. Aufgrund des vom Senat beigezogenen Gutachtens von Dr. N. vom 13.12.2008 hat sie einen mit Diät einstellbaren Diabetes mellitus Typ 2 ab Dezember 2007 als weitere Behinderung mit dem Einzel-GdB 10 angenommen, jedoch die Voraussetzungen der Schwerbehinderteneigenschaft weiterhin verneint.
Der Senat hat einen Befundbericht des Augenarztes Dr. K. in H. vom 27.08.2008 beigezogen. Dieser hat das geringe Restsehvermögen des Klägers auf dem linken Augen nach Schieloperation ebenso wie das Fehlen diabetischer oder sonstiger Befundänderungen seit der vorangehenden Untersuchung im Dezember 2006 bestätigt. Sodann wurde weiter Beweis erhoben durch Einholung eines internistischen Sachverständigengutachtens von Dr. N.. Im Gutachten vom 13.12.2008 ist der Sachverständige zu folgenden Einschätzungen gelangt: Der Diabetes mellitus Typ II sei nach der damaligen Ziffer 26.15 , S. 99 der "Anhaltspunkte" für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht" - AHP, Fassung 2008, mit dem Einzel-GdB 10 zu bewerten, da es sich um einen Diabetes handele, der durch Diät allein oder durch Diät und orale Antidiabetika ausreichend einstellbar sei. Dies sei ab Dezember 2007 anzunehmen. Eine relevante Herzrhytmusstörung sei nicht anzunehmen, da keine Beeinträchtigung der Pumpleistung des Herzens vorläge. Auch bestehe kein Hinweis auf Lungenfunktionsstörungen. Die Auswirkungen des Bluthockdruck bedingten wie bisher den Einzel-GdB 10, das Schlafapnoesyndrom mit nCPAP-Atemmaske-Versorgung mit den GdB 20, die Depression wie bisher den GdB 10 und die Sehbehinderung den Einzel-GdB 30. Für GdB-relevante Schäden des Haltungs- und Bewegungsapparates etc. sah er keinen Anhalt. Den Gesamt-GdB schätzte Dr. N. ab Mai 2007 mit 40 ein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts-, Verwaltungs- und beigezogenen Rentenstreitakten des SG D., S 34 RJ 139/99, verwiesen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Senats.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Richtige Berufungsbeklagte ist seit dem 01.01.2008 die für den Kläger örtlich zuständige kreisfreie Stadt H. (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Urteile des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06 und vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 sowie Urteil des 10. Senats des LSG NRW vom 05.03.2008, L 10 SB 40/06).
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 20.09.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2005 ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Gem. § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetz (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 2 Satz 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gem. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gem. § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt. Den Entscheidungen gem. § 69 SBG IX waren bis zum 31.12.2008 die " Anhaltspunkte" für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht" - AHP - und sind ab dem 01.01.2009 die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" - VMG - (abgedruckt als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin Verordnung vom 10.12.2008, BGBl. I Nr. 57 vom 15.12.2008) zugrunde zu legen. Danach liegen auch aktuell beim Kläger keine Funktionsbeeinträchtigungen vor, die den GdB 50 rechtfertigen könnten.
Das folgt aus dem Ergebnis der Beweiserhebung im Berufungsverfahren, insbesondere dem Sachverständigengutachten von Dr. N.. Danach liegt als führende Behinderung des Klägers seit Antragstellung im August 2004 die Sehstörung vor. Die Bewertung dieses Leidens mit dem Einzel-GdB 30 erfolgt übereinstimmend durch den beratenden ärztlichen Dienst des Beklagten und den in beiden gerichtlichen Instanzen gehörten Sachverständigen S. bzw. Dr. N.. Ausgehend von den Empfehlungen der AHP Ziffer 26.4 kommt unter Berücksichtigung der dort abgedruckten Tabelle der Deutschen Ophtamologischen Gesellschaft (DOG) trotz des geringen Restsehvermögens auf dem linken Auge kein höherer GdB in Betracht. Das stützt auch der vom Senat beigezogene Befundbericht von Dr. K. vom 01.09.2008 ebenso wie der bereits von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte Bericht von Dr. Ba. vom 12.08.2004. Die Bewertung diese GdB mit 30 ist schließlich auch nach den VMG, Teil B, Ziffer 4, Seite 29 ff. weiterhin zutreffend. Insbesondere gilt die DOG-Tabelle weiter. All dies rechtfertigt hier keine höhere Einschätzung.
Darüber hinaus liegt beim Kläger das Schlafapnoesyndrom vor. Wie Dr. N. im Gutachten vom 13.12.2008 für den Senat ausführt, rechtfertigt diese Gesundheitsstörung angesichts der nCPAP-Verordnung durch den behandelnden Lungenfacharzt am 16.05.2007 den GdB 20 ab Mai 2007. Dies hält sich innerhalb der Empfehlungen der AHP 2008, Ziffer 26.8 bzw. der VMG, Teil B Ziffer 8.7, S. 45. Ein Wertungsspielraum ist insofern nicht vorgesehen. Ein GdB von mehr als 20 (wenigstens 50) käme erst bei nicht durchführbarer nasaler Überdruckbeatmung in Betracht. Davon kann vorliegend schon wegen der relativ unkomplizierten Einstellung bei der Versorgung des Klägers mit dem nCPAP-Gerät nach dem Sachverständigengutachten Dr. N. nicht ausgegangen werden. Zugleich besteht mit diesem Gutachten ebensowenig ein Anhalt für eine GdB-relevante Schlafapnoe vor Mai 2007. Auch aus den aktenkundigen Befunden aus dem zeitlich vorangehenden Rentenstreitverfahren beim SG ergibt sich nichts anderes. Der klägerische Vortrag, angesichts des BSG-Urteils vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - sei ein GdB von 20 für diese Gesundheitsstörung schon vor Mai 2007 festzustellen, verkennt unterschiedliche Sachverhaltsgestaltungen. Für die Heranziehung des o.a. BSG-Urteils fehlt die Tatsachengrundlage. Denn mit dem Gutachten des Sachverständigen S. von Februar 2007 war trotz nächtlicher Schlafschwierigkeiten mit gelegentlichem Schnarchen sowie aufgrund des Befundberichts des Lugenfacharztes W. in H. vom 06.07.2006 gerade keine faktische Gesundheitsbeeinträchtigung durch eine - insofern noch unbehandelte - Schlafapnoe in einem relevanten Zeitraum vor der tatsächlichen Diagnose durch die Lungenfachärzte Dr. O./W. im Mai 2007 anzunehmen. Zudem besteht auf internistischem Fachgebiet das Bluthochdruckleiden. Dieses bedingt nach der übereinstimmenden Bewertung der Sachverständigen S. und Dr. N. einen Einzel-GdB 10. Das entspricht den insofern weithin unauffälligen Befunden und hält sich damit im Rahmen der Empfehlungen der AHP 2008, Ziffer 26.9, als auch der VMG, Teil B Ziffer 9.3 Seite 51. Insbesondere liegen keine GdB- erhöhend zu berücksichtigenden, gravierenden organischen Folgeschäden oder Leistungseinschränkungen vor. So war der Kläger bei der Fahrrad-Ergometrie im Januar 2007 im Liegen sogar bis 125 Watt belastbar.
Schließlich hat der Kläger seit Ende 2007 einen Diabetes mellitus ohne Insulintherapie, ohne instabile Stoffwechsellage und ohne relevante Zuckerentgleisungen. Etwas anderes ist vom rechtskundig vertretenen Kläger weder schriftsätzlich mitgeteilt worden noch anhand der vorliegenden Befunde erkennbar. Mithin ist der hier bekannte Diabetes-Befund in Übereinstimmung mit dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. N. mit dem GdB 10 zu bewerten. Denn dies entspricht den im Jahr 2008 zu berücksichtigenden Einschätzungen der AHP Ziffer 26.15, S. 99 bzw. den entsprechenden Vorgaben der VMG Teil B Ziffer 15. 1 Seite 73/74.
Mit dem Einzel-GdB 10 ist auch das psychische Leiden des Klägers zutreffend berücksichtigt. Nach dem von beiden gerichtlichen Sachverständigen übereinstimmend in ihren Gutachten angegebenen Umständen zum wechselhaften Verlauf der psychischen Erkrankung des Klägers liegt nur noch eine leichte depressive Störung im Sinne einer Dysthymie vor. Die Bewertung mit dem Einzel-GdB 10 entspricht den Empfehlungen der AHP 2008, Ziffer 26.3. Sie ist auch nach den VMG Teil B Ziffer 3.7 S. 27 als weiterhin zutreffend anzusehen.
Der GdB insgesamt ist ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Ziffer 19 Abs. 3 AHP 2008 / Teil A Ziffer 3 d, S. 10 VMG) in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben beträgt der Gesamt-GdB 40, wobei der Senat mit dem angefochtenen Urteil davon ausgeht, dass die Beeinträchtigungen des Klägers im Zeitraum von der Erstantragstellung im August 2004 bis zum Hinzutreten des Schlafapnoesyndroms im Mai 2007 mit dem GdB 30 hinreichend bewertet waren. Sodann ergibt sich auch für den Senat ab Mai 2007 angesichts des Hinzutreten des mit nächtlicher Überdruckbeatmung zu behandelnden Schlafapnoesyndroms der Gesamt-GdB 40. Denn erst dann konnte der führende GdB 30 für die Sehstörung wegen des Schlafapnoesyndroms um den weiteren GdB 10 auf 40 erhöht werden.
Der Senat weist abschließend darauf hin, dass er erwogen hat, dem Kläger auch Verschuldenskosten gem. § 192 Abs. 1 SGG in Höhe von ca. 500,00 Euro aufzuerlegen. Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen vor. Auf das Hinweisschreiben vom 11.09.2009 wird Bezug genommen. Der Senat hat hiervon nur deswegen abgesehen, weil der Zugang dieses Schreibens nicht erweislich war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.