Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 VG 51/08 - Beschluss vom 22.12.2009
Eine Festnahme bzw. Inhaftierung durch Polizeibeamte ist im Zeitpunkt ihrer Vornahme gerechtfertigt, wenn ihr ein wirksamer Haftbefehl zugrunde liegt und die für die Festnahme erforderlichen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Dies gilt auch, wenn der Haftbefehl aufgrund wahrheitswidriger Angaben erlassen worden ist.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Versorgungsanspruch nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen einer psychischen Störung nach fälschlicher Festnahme und Haft zusteht.
Der 1970 geborene Kläger stellte am 17.12.2003 unter Beifügung ärztlicher Berichte beim Versorgungsamt C den Antrag, ihm Versorgung nach dem OEG zu gewähren. Er habe eine Posttraumatische Belastungsstörung erlitten, weil er durch falsche Beschuldigungen der Frau (G.) von der Polizei festgenommen worden sei und vom 19.10. bis 15.11.2002 in Untersuchungshaft gesessen habe.
Das Versorgungsamt C zog das Vorerkrankungsverzeichnis der DAK C, die Akten des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens 3 Ls 22 Js 293/03 sowie einen Bericht des Leiters der Justizvollzugsanstalt E vom 07.09.2004 bei. Anschließend lehnte es den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 29.09.2004 ab, weil es an einem vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG fehle. Die als Gewalttat geltend gemachte Festnahme durch die Polizei beruhe auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts Detmold vom 19.10.2002. Dieser sei wegen des dringenden Tatverdachts der sexuellen Nötigung gem. § 177 Strafgesetzbuch ergangen. Da die Verhaftung rechtmäßig gewesen sei, habe kein rechtswidriger Angriff vorgelegen, wie ihn § 1 OEG fordere. Dass es sich um eine falsche Verdächtigung gehandelt habe, habe sich erst später herausgestellt, ändere aber nichts an der mangelnden Rechtswidrigkeit der Verhaftung.
Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Klägers vom 25.10.2004 wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 23.03.2005 zurück.
Der Kläger hat am 21.04.2005 Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben und sein Begehren weiter verfolgt. Wenn auch die Festnahme auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts beruht habe, sei deren Rechtmäßigkeit im Nachhinein nicht bestätigt worden. Die unrechtmäßige Inhaftierung mit dem dadurch erlittenen Gesundheitsschaden erfülle die Voraussetzungen des § 1 OEG. Gleiches gelte darüber hinaus auch für das strafrechtlich relevante Verhalten der Frau G. Die von ihr verwirklichten Straftatbestände der falschen Anschuldigung, uneidlichen Falschaussage und der Freiheitsberaubung seien als vorsätzlich rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des OEG anzusehen.
Mit Urteil vom 15.08.2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es angeführt, dass weder die Festnahme des Klägers am 18.10.2002 und der Vollzug des Haftbefehls durch die staatlichen Organe noch die durch Frau G. in mittelbarer Täterschaft begangene Freiheitsberaubung einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des OEG darstellen. Ein tätlicher Angriff erfordere eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung, bei der es zwar nicht zur körperlichen Berührung kommen, jedoch das Opfer bereits objektiv hoch gefährdet sein müsse. Dies sei hier nicht gegeben. Bei den wahrheitswidrigen Angaben der Frau G. habe es sich nicht um unmittelbar auf den Körper des Klägers zielende Einwirkungen gehandelt. Ob der Tatbestand des § 1 Abs. 1 OEG verwirklicht werden könne, wenn eine Person aufgrund einer falschen Verdächtigung festgenommen und ein Haftbefehl vollstreckt werde, könne im vorliegenden Fall dahinstehen. Erforderlich sei nach Auffassung der Kammer jedenfalls, dass die Person durch Mittel körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt und/oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrechterhalten werde. Hierfür gebe es im Fall des Klägers keine Anhaltspunkte. Der Kläger habe sich laut Festnahmeanzeige widerstandslos festnehmen lassen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 16.09.2008 zugestellte Urteil am 16.10.2008 Berufung eingelegt. Wenn er sich auch widerstandslos habe festnehmen und inhaftieren lassen, so habe die Festnahme und Inhaftierung doch unter dem Vorbehalt der Anwendung körperlicher Gewalt gestanden, falls er sich widersetzt hätte. Bei einer latenten Gewalt wie hier könne die Verwirklichung des Tatbestandes des OEG nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Anspruchsteller die Anwendung von Gewalt geradezu provozieren müsse, um in den Schutzbereich des OEG zu gelangen. Das Opfer, das sich im Wissen um die Gewaltbereitschaft des Täters nicht wehre, könne nicht anders behandelt werden als ein Opfer, welches Widerstand leiste.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 15.08.2008 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 29.09.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.03.2005 zu verurteilen, ihm wegen der Festnahme am 18.10.2002 und Inhaftierung vom 19.10. bis 15.11.2002 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 25 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat den Beteiligten die Absicht mitgeteilt, die Streitsache durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden zu wollen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und insbesondere der Gutachten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nach einstimmiger Auffassung des Senats nicht begründet. Eine weitere mündliche Verhandlung hält der Senat nicht für erforderlich. Das Rechtsmittel wird daher ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen, nachdem die Beteiligten dazu gehört worden sind (§ 153 Abs. 4 SGG).
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zutreffend hat es der Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, dem Kläger Versorgung wegen des geltend gemachten schädigenden Ereignisses zu gewähren. Weder die Festnahme des Klägers noch die falsche Anschuldigung, uneidliche Falschaussage und dadurch Freiheitsberaubung der Frau G. erfüllen die Tatbestandsvoraussetzung eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs im Sinn von § 1 OEG.
Bezüglich der falschen Anschuldigung und uneidlichen Falschaussage der Frau G. fehlt es am Merkmal eines tätlichen Angriffs. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht insofern von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Soweit der Kläger geltend macht, dass seine Festnahme bzw. Inhaftierung einen tätlichen Angriff im Sinne des OEG darstelle, weil eine Gewaltanwendung immer latent gewesen sei und er allein im Wissen um diese Umstände keine Widerstand geleistet habe, kommt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung auch unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht. Dabei kann dahinstehen, ob ein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 OEG - wie dies der Kläger meint - wegen der latenten Gewaltdrohung auch bereits dann anzunehmen ist, wenn die Festnahme durch die Polizei widerstands- und damit gewaltlos erfolgt. Es fehlt jedenfalls am Tatbestandsmerkmal der Rechtswidrigkeit. Eine Festnahme und Inhaftierung durch Polizeibeamte ist im Zeitpunkt ihrer Vornahme dann gerechtfertigt, wenn ihr ein wirksamer Haftbefehl zugrunde liegt und die für die Festnahme erforderlichen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Dies ist hier der Fall. Dass der Haftbefehl aufgrund der wahrheitswidrigen Angaben der Frau G. erlassen worden ist, ändert nichts an seiner Wirksamkeit im Zeitpunkt der Festnahme.
Gleiches gilt für den von Frau G. verwirklichten Straftatbestand der Freiheitsberaubung. Selbst wenn man in der Freiheitsberaubung einen tätlichen Angriff mittels der Polizei als "Werkzeug" ansehen würde, ist die im OEG erforderliche "tätliche" Angriffshandlung, d.h. hier die Festnahme, aus den o.g. Gründen nicht rechtswidrig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.