LSG NRW – Urteil vom 12.06.2003 – Az.: L 7 SB 129/01

 

 

Bevor ein Gericht über einen Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid entscheidet, müssen die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform angehört werden (§ 105 SGG). Diesem Erfordernis wird das Gericht nicht gerecht, wenn eine lediglich formularmässige Mitteilung ergeht, dass beabsichtigt ist durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Vielmehr muss die Anhörung zumindest kurze und vor allem fallbezogene Hinweise enthalten, aus denen hervorgeht warum das Gericht durch Gerichtsbescheid entscheiden will und wie es gedenkt zu entscheiden.

 

 

Tatbestand:

 

 Zwischen den Beteiligten sind die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers und die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche Gehbehinderung" (G) streitig.

 

 Der im Jahre 1949 geborene Kläger beantragte im November 2000 bei dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von wenigstens 50. Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 16.01.2001 einen Gesamt-GdB von 30 fest wegen 1. Funktionseinschränkung der Kniegelenke bei Verschleiß und Zustand nach Splitterbruch rechts, Krampfaderleiden der Beine (GdB 20), 2. Schlaf-Atemstörung, Allergieneigung, Heuschnupfen (GdB 20) und 3. Schulter-Arm-Syndrom links (GdB 10). Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch und begehrte die Zuerkennung eines weit höheren GdB sowie des Merkzeichens "G". Nach Einholung eines Befundberichtes von Dr. N und eines Gutachtens von Dr. B wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2001 als unbegründet zurück, wobei er die Leidensbezeichnung zu 1 um "Restbeschwerden nach Außenknöchelfraktur rechts" erweiterte.

 

 Mit der am 04.10.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Münster erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" begehrt.

 

 Das SG hat einen Behandlungsbericht der Klinik A ... beigezogen und einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. N sowie eine Auskunft der Techniker Krankenkasse Rheine zu den Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers eingeholt. Anschließend hat das SG den Internisten Dr. B und den Orthopäden Dr. E mit der Erstellung von Sachverständigengutachten beauftragt. Dr. B ist als Hauptsachverständiger zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-GdB bei dem Kläger 30 beträgt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G nicht vorliegen.

 

 Das SG hat den Kläger mit der Übersendung der Gutachten zur Stellungnahme aufgefordert, ob die Klage unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Gutachten zurückgenommen oder ein Antrag auf Einholung eines Gutachten gem. § 109 SGG gestellt werde. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 14.11.2002 um Fristverlängerung zur Stellungnahme gebeten, da noch eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt ausstehe. Am 20.11.2002 hat das SG die Beteiligten auf § 105 SGG hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung bis 20.12.2002 gegeben. Am 23.12.2002 hat der Kläger ein aktuelles Attest des Arztes Dr. N übersandt.

 

 Mit Gerichtsbescheid vom 23.12.2002 hat das SG Münster die Klage abgewiesen. Der Gerichtsbescheid wurde am 27.12.2002 zur Post gegeben.

 

 Gegen den am 04.01.2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 22.01.2003 Berufung eingelegt. Er trägt u.a. vor, das SG stütze sich ohne weitere Begründung auf die Ergebnisse der eingeholten Gutachten, ohne hierzu nähere Ausführungen zu machen. Mit dem Attest des Dr. N vom 06.12.2002 habe es sich nicht auseinandergesetzt. Er sei mit seinem Hausarzt der Auffassung, dass ihm mindestens ein GdB von 50 sowie die Feststellung des Merkzeichens "G" zustehen.

 

 Der Kläger beantragt,

 

 den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 23.12.2002 aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Münster zurückzuverweisen.

 

 Der Beklagte beantragt,

 

 die Berufung zurückzuweisen.

 

 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen.

 

 

 Entscheidungsgründe:

 

 Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

 

 Der Gerichtsbescheid leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, so dass der Senat von der nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat.

 

 Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der Verfahrensmangel kann das sozialgerichtliche Verfahren selbst, aber auch die Entscheidung selbst betreffen (Meyer-Ladewig, Komm. z. SGG, 7. Aufl., § 159 RZ. 3).

 

 Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Das SG hat gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) verstoßen, indem es keine den Anforderungen des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG genügende Anhörung der Beteiligten durchgeführt hat. Nach dieser Vorschrift, die eine besondere Ausprägung des Gebotes der Gewährung rechtlichen Gehörs darstellt, sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheides zu hören. Nach Auffassung des Senats genügt hierbei keine formularmäßige Mitteilung ohne Bezug auf den konkreten Fall, vielmehr sind zumindest kurze und vor allem fallbezogene Hinweise erforderlich (vgl. auch LSG NW Urteile vom 17.09.1993 - L 4 J 109/93 -, vom 14.09.1995 - L 2 Kn 69/95 -, vom 21.11.2001 - L 10 P 41/99 - und vom 26.10.1998 - L 4 RJ 167/98 -). Die Anhörungsmitteilung soll die Beteiligten in die Lage versetzen, sachgerechte Einwendungen zu erheben. Denn unabhängig vom konkreten Inhalt des Anhörungsschreibens erfüllt die Anhörung auch generell den Zweck, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen und Beweisanträge zu stellen (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 105 RZ 10a).

 

 Diesen Anforderungen wird die vom SG durchgeführte Anhörung in keiner Weise gerecht. Zwar hat das SG die Übersendung der Gutachten mit der Anfrage verbunden, ob die Klage angesichts der Gutachten aufrecht erhalten bleibt oder ein Antrag nach § 109 SGG gestellt wird. Damit hat das SG dem Kläger zu erkennen gegeben, dass die Klage seiner Ansicht nach keine Aussicht auf Erfolg hat und keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen beabsichtigt sind. Ein solcher Hinweis kann aber nur ausnahmsweise dann genügen, wenn das SG dargelegt, warum es die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid als gegeben ansieht.

 

 Außerdem hätte das SG sich aufgrund des Sachvortrages des Klägers gedrängt fühlen müssen, den Kläger erneut anzuhören. Denn der Kläger hat vor Zustellung des Gerichtsbescheides ein Attest seines behandelnden Arztes mit aktuellen Befunderhebungen und Beschwerdeschilderungen übersandt, wonach eine Überprüfung des Gesamt-GdB aufgrund der Schwere und Beharrlichkeit der Beschwerden als erforderlich angesehen wurde. Den neuen Vortrag hätte das SG bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen müssen, denn dieser war nicht etwa als "verspätet" zurückzuweisen. Die vom SG gesetzte Frist zur Stellungnahme stellt keine Ausschlussfrist dar, sondern gibt nur den Rahmen vor, innerhalb dessen eine solche erfolgen soll. Die Möglichkeit zur Stellungnahme endet tatsächlich aber erst dann, wenn der Gerichtsbescheid zur Post gegeben worden ist. Da bei einer Entscheidung nach § 105 SGG oder auch nach § 124 Abs. 2 SGG eine mündliche Verhandlung entfällt, bis zu deren Schluss die Beteiligten zur Sache vortragen können, muss für die Entscheidung im schriftlichen Verfahren auf einen Zeitpunkt abgestellt werden, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Geschäftsstelle die Entscheidung zum Zwecke der Zustellung an die Beteiligten herausgegeben hat (BVerfG 60, 313, 318; 62, 347, 353; Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, § 105 RZ. 37). Da der Gerichtsbescheid erst am 27.12.2002 auf den Postweg gebracht wurde, waren der Schriftsatz vom 19.12.2002 und das mit diesem übersandte Attest vom SG bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Aus diesem Grund war das SG auch gehalten, die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 105 SGG erneut zu prüfen und die Beteiligten darauf hinzuweisen, dass es trotz des Inhalts des Schriftsatzes und des Attestes weiterhin die Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides als gegeben ansieht und entsprechend entschieden werden soll.

 

 Des Weiteren liegt ein Verstoß des SG gegen die Vorschriften der §§ 136 Abs. 1 Nr. 6, 202 SGG i.V.m. § 313 Abs. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) vor. Der Gerichtsbescheid muss - wie auch das Urteil (vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG) - Entscheidungsgründe enthalten. Sinn der Entscheidungsgründe ist es, für jede ausgesprochene Rechtsfolge eine lückenlose, widerspruchsfreie und verständliche Begründung zu geben, die es den Beteiligten, den Rechtsmittelgerichten und der Öffentlichkeit ermöglicht, die Entscheidungsfindung des Gerichts zu überprüfen. Auch im Gerichtsbescheid ist darzulegen, inwieweit die entscheidungserheblichen Tatbestandmerkmale erfüllt oder nicht erfüllt sind.

 

 Wesentlicher Teil der Entscheidungsgründe ist ferner die Beweiswürdigung. Ein grober Verfahrensfehler liegt vor, wenn eine Beweiswürdigung völlig fehlt (BGHZ 39, 333, 337; Meyer-Ladewig, a.a.O., § 136 RZ. 7f) oder wenn den Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen ist, aufgrund welcher Tatsachen und Erwägungen das Gericht zu seinen Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Folgerungen gekommen ist (BGH Urteil vom 07.03.2001 - X ZR 176/99 -; BFHE 86, 219; Meyer-Ladewig, a.a.O., § 136 RZ. 7f). Das SG muss zwar nicht die einzelnen Schritte der vorgenommenen Prüfung und Würdigung in der Entscheidung in allen Einzelheiten darlegen, es muss aber die tragenden Gründe nachvollziehbar darlegen (BGH vom 07.03.2001 - X ZR 176/99 -). Zum Inhalt eines Gerichtsbescheides gehören außerdem Ausführungen dazu, weshalb das Gericht von dieser Entscheidungsform Gebrauch gemacht hat. Insbesondere muss dargelegt werden, dass die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG vorliegen (Peters-Sautter-Wolff, a.a.O., § 105 RZ. 48).

 

 Diese Voraussetzungen erfüllt die angefochtene Entscheidung nicht. Die Gründe des Gerichtsbescheides enthalten keine Ausführungen dazu, weshalb das SG sich vorliegend ermächtigt sah, eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid herbeizuführen. Die Formulierung, dass die Beteiligten auf die Möglichkeit eines Gerichtsbescheides hingewiesen worden sind, reicht als Begründung nicht. Ferner lassen die Entscheidungsgründe eine ordnungsgemäße Auseinandersetzung mit dem Sachvortrag der Beteiligten sowie eine ausreichende Beweiswürdigung vermissen. Wie der Kläger in seiner Berufungsbegründung zutreffend ausführt, ist nicht erkennbar, ob das SG das von ihm überreichte Attest inhaltlich gewürdigt oder als verspätet zurückgewiesen hat. Die Beweiswürdigung des SG beschränkt sich darauf, dass das Gericht den Gutachten von Dr. B und Dr. E folgt, da diese in sich schlüssig seien und keine Fehler erkennen ließen und zudem diese Gerichtssachverständigen als besonders erfahren in der Bewertung von Behinderungen bekannt seien. Es findet keine Auseinandersetzung mit den im Einzelnen erhobenen Befunden und Bewertungen der Sachverständigen statt, aus der erkennbar wird, dass sowohl die Sachverständigen als auch das Gericht diese Bewertungen anhand der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) ermittelt haben. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleich "G" werden nicht dargelegt und auch nicht ausgeführt, weshalb diese nicht erfüllt sind. Die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheides sind insgesamt nicht geeignet, sich mit den rechtlichen Erwägungen des Vordergerichts auseinander zu setzen, die zu der angefochtenen Entscheidung geführt haben.

 

 Die angefochtene Entscheidung kann auch auf den Verfahrensmängeln beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das SG nach der Gewährung des rechtlichen Gehörs und weiteren Ermittlungen eine andere Entscheidung getroffen hätte.

 

 Die gemäß § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Senats stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens, der Schwere der Verfahrensfehler sowie zur Erhaltung einer zweiten Tatsacheninstanz geboten.

 

 Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

 

 Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.