Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 7 SB 20/11 - Urteil vom 21.02.2012
Nach der Neufassung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Diabetes mellitus erfordert die Feststellung eines GdB von 50 nicht nur mindestens vier Insulininjektionen pro Tag und ein selbständiges Anpassen der jeweiligen Insulindosis. Zusätzlich muss es - sei es bedingt durch den konkreten Therapieaufwand oder die jeweilige Stoffwechselqualität oder wegen sonstiger Auswirkungen der Erkrankung (z.B. Folgeerkrankungen) - zu einer gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung kommen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Die am ... 1954 geborene Klägerin beantragte am 20. April 2010 beim Beklagten die Feststellung von Behinderungen nach dem Neunten Buch SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) und begründete dies mit einem Diabetes mellitus Typ I. Der Beklagte zog einen Befundbericht der Internistin/Diabetologin Dr. K. vom 9. Juni 2010 bei, die angab: Bei der Klägerin sei erstmals Anfang März 2003 der Typ I Diabetes mellitus festgestellt worden, der eine sofortige Insulineinstellung erfordert habe. Zu Beginn habe der HbA1c-Wert 13,8 mmol/l betragen und liege seit der Insulineinstellung zwischen 5,2 bis 6,9 mmol/l. Begleiterkrankungen oder Folgeerkrankungen aus dieser Grunderkrankung seien nicht bekannt. Ab und zu träten leichte Hypoglykämien mit Gegenregulationen auf. Hypoglykämien, die Fremdhilfe erfordert hätten, seien dagegen noch nie aufgetreten.
Der Versorgungsarzt Dipl.-Med. K. wertete diesen Befund unter dem 21. Juni 2010 aus und sprach sich für einen Gesamt-GdB von 30 aus. Dem folgend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Juli 2010 den Gesamt-GdB ab dem 20. April 2010 mit 30 fest. Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 15. August 2010, in dem sie ausführte: Sie habe einen erheblichen Therapieaufwand, der auch durch ihren Beruf als Verkäuferin im Außendienst (seit 1990) mit sehr unregelmäßigen Arbeitszeiten sowie vielen Dienstreisen erklärbar sei. Dies führe dazu, dass sie etwa sechs bis acht Mal am Tag den Blutzucker messen und entsprechend Insulin spritzen müsse, wobei auch oft Korrekturen erforderlich seien. Diesen Therapieaufwand müsse sie betreiben, um die Blutzuckerwerte stabil zu halten. Der Beklagte holte einen weiteren Befundschein von Dr. K. vom 23. September 2010 ein. Hiernach bewege sich der HbA1c-Wert zwischen 6,2 und 6,9 mmol/l. Der letzte HbA1c-Wert vom 21. September 2010 habe 6,5 mmol/l betragen. Alle anderen laborchemischen Parameter seien im Normbereich. Selten träten leichte, meist kaum bemerkte Schockzustände auf. Zu Hypoglykämien mit Bewusstlosigkeit oder Fremdhilfe sowie Begleit- oder Folgeerkrankungen sei es nicht gekommen.
Die Klägerin ergänzte ihren Vortrag weiter und führte aus: Sie spritze täglich als Basis einmal Lantos und dann in Abhängigkeit von den jeweiligen Blutzuckerwerten drei bis viermal täglich Humalog. Darüber hinaus legte sie Auszüge ihres Diabetikertagebuchs vor. Der Versorgungsarzt Dipl.-Med. K. wertete diese Unterlagen am 8. November 2010 aus und gab an: Die diabetologischen Befundberichte und die nachgereichten Blutzuckeraufzeichnungen belegten noch keinen erheblichen Einschnitt in der Lebensführung und eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Es werde daher ein Gesamt-GdB von 40 empfohlen.
Nach der Zweiten Änderung der Versorgungsmedizinverordnung veranlasste der Beklagte eine erneute prüfärztliche Stellungnahme. In dieser Stellungnahme vom 23. Dezember 2010 führte die Versorgungsärztin S. aus, dass die vorgelegte Dokumentation einen Zeitraum von 96 Tagen umfasse. Die Klägerin messe vier bis achtmal täglich den Blutzucker und injiziere zwei bis viermal täglich Bolusinsulin und einmal täglich Basisinsulin. Nach den vorgelegten Dokumentationszeiträumen habe an mindestens 35 Tagen die Dosis nicht angepasst werden müssen. An den restlichen Tagen seien ein bis drei Korrekturinjektionen vorgenommen worden. Die für einen GdB von 50 erforderliche ständige Anpassung der Insulindosierung sei daher nicht zu bestätigen und ein Gesamt-GdB von 40 vorzuschlagen. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2010 änderte der Beklagte den Bescheid vom 22. Juli 2010 ab und stellte ab dem 20. April 2010 einen GdB von 40 fest.
Hiergegen hat die Klägerin am 18. Januar 2011 Klage beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhoben, ihr Begehren weiter verfolgt sowie ergänzend vorgetragen: Sie werde mit der intensivierten Insulintherapie (ICT) behandelt. Dies führe dazu, dass sie täglich einmal ein Basisinsulin (lang wirkend) und zu jeder Mahlzeit ein kurz wirkendes Insulin spritzen müsse. Bei drei Mahlzeiten seien daher vier Spritzen am Tag erforderlich. Zu jeder Mahlzeit müsse sie den Blutzuckerwert ermitteln. Die Behauptung des Beklagten, an mindestens 35 Tagen sei keine Dosisanpassung erforderlich geworden, treffe nicht zu. Nach dem Therapieschema einer ICT müsse das Insulin zu jeder Mahlzeit individuell angepasst werden. Dies führe dazu, dass sie zu einer vorausschauenden Lebensweise gezwungen sei. Beispielsweise benötige sie bei Flugreisen eine Extrabescheinigung für die Diabetikerutensilien.
Das SG hat mit Urteil vom 14. März 2011 den Bescheid vom 22. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2010 abgeändert und den Beklagten verurteilt, einen GdB von 50 ab April 2010 festzustellen und ausgeführt: Die Klägerin erfülle die Voraussetzung von täglich mindestens vier Insulininjektionen im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Demgegenüber seien keine gravierenden Einschnitte in der Lebensführung für die Feststellung der Schwerbehinderung erforderlich. Hierbei handele es sich nicht um ein Tatbestandsmerkmal, sondern um eine allgemeine Bewertung für Betroffene, die den genannten Therapieaufwand - wie bei der Klägerin - betreiben müssen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 21. März 2011 zugestellte Urteil am 24. März 2011 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und ergänzend ausgeführt: Eine ständige Anpassung der Insulindosierung sei von der Klägerin nicht nachgewiesen. Darüber hinaus habe die behandelnde Diabetologin lediglich über HbA1c-Werte zwischen 6,2 mmol/l und 6,9 mmol/l berichtet. Hypoglykämien bzw. Begleit- oder Folgeerkrankungen seien jeweils nicht belegbar. Das Erkrankungsbild rechtfertige nur einen Gesamt-GdB von 40.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. März 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung der Vorinstanz für zutreffend und hat ergänzend ausgeführt: Es stimme zwar, dass es bei ihr noch nie zu Hypoglykämien mit Bewusstlosigkeit gekommen sei, ein guter HbA1c-Wert vorliege und noch keinerlei Folgeschäden aufgetreten seien. Dieses Ergebnis werde jedoch nur durch ihren erheblichen Therapieaufwand erzielt, der eine ständige Überwachung der Werte und eine ständige Anpassung der Insulingaben erfordere.
Der Senat hat einen weiteren Befundbericht von Dr. K. vom 6. September 2011 eingeholt. Danach habe die Klägerin manchmal erhöhte Blutzuckerwerte. Der letzte Blutzuckerwert vom 31. August 2011 habe 6,4 mmol/l betragen. Während die HbA1c- Werte zunächst zwischen 5,5 bis 6,1 mmol/l gelegen hätten, seien sie in den letzten zwei Jahren auf 6,5 bis 6,9 mmol/l gestiegen. Die Klägerin müsse viermal täglich den Blutzucker kontrollieren. Dies sei notwendig, um die aktuell notwendige Insulindosis in Abhängigkeit zur körperlichen Aktivität und der geplanten BE-Menge festzulegen.
Der Beklagte hat diesen medizinischen Befund durch die leitende Ärztin der Landesversorgungsverwaltung Dr. S. vom 30. September 2011 auswerten lassen: Bei der Bewertung des GdB komme es medizinisch nicht nur auf mehrmalige (wenigstens viermal) pro Tag erforderliche Insulininjektionen an. Die Annahme einer Schwerbehinderung erfordere generell eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung und eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung, die z.B. durch einen höheren Therapieaufwand bedingt sein könne. Das wäre beispielsweise dann anzunehmen, wenn sich die Stoffwechsellage trotz des definierten therapeutischen Aufwandes weiterhin so unbefriedigend zeige, dass eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung nachvollziehbar begründet werden könne. Dies sei nicht der Fall, wenn sich die Stoffwechsellage im Ergebnis des definierten Therapieaufwandes überwiegend als gut eingestellt erweise und sich der Betroffene den täglichen, an den Standardanforderungen gemessenen Herausforderungen weitestgehend uneingeschränkt stellen könne. Vor diesem Hintergrund sei jeder Einzelfall gesondert zu prüfen. Die Klägerin gehöre zu jenen Diabetikern, die sich leidensabhängig mehrfach am Tag Insulin per subcutaner Injektion zuführen müssen und die begleitend auch auf adäquate Blutzuckermessungen angewiesen seien. Ihr Stoffwechsel sei jedoch so gut eingestellt, dass weder häufige oder ständige Anpassungen der Insulindosierung erforderlich seien, noch bedrohliche Stoffwechselentgleisungen, z. B. in Form von schwerwiegenden Hypoglykämien, aufgetreten seien. Die HbA1c-Werte lägen im Normbereich, diabetische Begleit- und/oder Folgeerkrankungen seien dank der therapiebedingt gut eingestellten Stoffwechsellage nicht objektivierbar. Das Leistungsbild und folgerichtig auch die Teilhabebeeinträchtigung seien bei der Klägerin somit nicht in einem die Schwerbehinderteneigenschaft begründeten Maß eingeschränkt.
In einer nichtöffentlichen Sitzung vom 21. Dezember 2011 hat die Klägerin angegeben: Bei ihrer Tätigkeit handele es sich um eine anspruchsvolle Tätigkeit, die häufig mit unregelmäßigen Arbeitszeiten und einer hohen Reisetätigkeit verbunden sei. Aufgrund der Erkrankung könne sie wegen der negativen Folgewirkungen u.a. keine Fruchtsäfte trinken, Reis essen oder Kartoffelbrei zu sich nehmen, um keine gesundheitliche Nachteile zu erleiden. Täglich sei es erforderlich, fünf bis sechsmal den Blutzucker zu messen. So sei es ihr nicht möglich, einfach einen Apfel zu essen oder ein Weihnachtsgebäck oder Ähnliches zu sich zu nehmen. In sportlicher Hinsicht schwimme sie, wandere und fahre Fahrrad. Dies sei jedoch nicht regelmäßig der Fall. Je nach Witterung, Temperatur und Region müsse sie besonders auf die Einsatzfähigkeit des Insulins achten. Dies gelte z.B. besonders im Urlaub. In Irland sei ihr die Insulintasche gestohlen und während eines Thailandurlaubs das Insulin durch die hohen Temperaturen unbrauchbar geworden. Die ICT-Therapie sei sehr anspruchsvoll. Hierbei müsse sie jeweils zwei Faktoren beachten. Auf der einen Seite sei der sog. Korrekturfaktor (Bolus) wichtig, der abhängig von der Uhrzeit und vom jeweiligen Blutzuckerwert sei. Auf der anderen Seite sei der jeweilige Broteinheitsfaktor (BE-Faktor) zu berücksichtigen, der vom Essen abhängig sei. Derzeit habe sie einen Basiswert von 10 Einheiten. Hierfür werde das Medikament Lantos eingesetzt. Dabei handele es sich um ein Langzeitinsulin. Daneben müsse sie noch Humalog nehmen. Dies sei ein kurzzeitig wirkendes Insulin, was beispielsweise für Mahlzeiten oder für die Korrektur bei erhöhten Blutzuckerwerten eingesetzt werden müsse. Zu den praktischen Auswirkungen hat sie angegeben: Es sei ihr beispielsweise nicht ohne weiteres möglich, mit Kollegen spontan ein Getränk zu sich zu nehmen. Bei Geschäftsessen müsse sie sich stets vor der Einnahme des Essens eine Insulininjektion setzen und dann das bestellte Essen auch zu sich nehmen, damit der Blutzuckerspiegel nicht zu stark absinkt. Auch könne sie krankheitsbedingt keine Sportarten wie Fliegen oder Tauchen betreiben.
Am 24. Januar 2012 hat die Klägerin Ablichtungen der Blutzuckerwerte für die Zeit vom 15. Dezember 2011 bis zum 22. Januar 2012 zur Akte gereicht und sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Beklagte hat am 14. Februar 2012 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt und die eingereichten Unterlagen der Klägerin durch die Versorgungsärztin Dr. W. auswerten lassen, die in ihrer Stellungnahme vom 13. Februar 2012 ausgeführt hat: Die Diabetikertagebücher der Klägerin belegten eindrucksvoll, dass bei ihr bereits unter der üblichen Insulintherapie und geringen Dosiskorrekturen gute bis befriedigende Blutzuckerwerte erreicht worden seien. Die in den Unterlagen vermerkten Entgleisungen seien allerdings in Anbetracht der mitgeteilten Blutzuckerwerte so nicht nachvollziehbar. Bedrohliche Unter- oder Überzuckerungen, die zu einer Unterbrechung der Alltagsaktivitäten geführt haben könnten, seien nicht mitgeteilt. Aus der sehr stabilen Stoffwechseleinstellung sei indirekt zu schließen, dass keine gravierenden Einschnitte in den Alltagsablauf vorliegen. Dies belegten auch die Aufzeichnungen, die wegen der zahlreichen Aktivitäten (Tagungen, Veranstaltungen usw.) eine normale Lebensführung dokumentierten. Die Feststellung einer Schwerbehinderung sei sachlich nicht zu rechtfertigen.
Demgegenüber hat die Klägerin am 16. Februar 2012 nochmals auf ihren hohen Therapieaufwand verwiesen, der versorgungsmedizinischen Einschätzung widersprochen und sich erneut mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere auf die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang der Beklagten und die von der Klägerin vorgelegten Diabetikertagebücher Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte vorliegend ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) entscheiden, da sich beide Beteiligte hiermit einverstanden erklärt haben.
Die form- und fristgerecht eingelegte und nach § 143 SGG statthafte Berufung des Beklagten ist begründet. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft liegen bei der Klägerin nicht vor.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Antrag der Klägerin auf Feststellung eines Behinderungsgrads von mindestens 50 ab dem 20. April 2010. Hierbei handelt es sich um eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, für die bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich ist (vgl. BSG v. 12. April 2000 - B 9 SB 3/99 R = SozR 3-3870 § 3 Nr. 9, S. 22).
Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht in ihren Rechten verletzt, da der festgestellte GdB von 40 rechtmäßig ist. Das anderslautende Urteil des SG vom 14. März 2011 war entsprechend aufzuheben und der Berufung des Beklagten stattzu- geben.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Diese Regelung knüpft materiellrechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für den GdB die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach der damit in Bezug genommenen Fassung des § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades - dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch den dem § 30 BVG durch das Gesetz vom 13. Dezember 2007 angefügten Absatz 17 ermächtigt worden ist.
Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt.
Soweit der streitigen Bemessung des GdB die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Teil A, S. 17 ff.) zugrunde zu legen ist, gilt Folgendes: Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A, S. 8 ff.) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A, S. 8) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a, S. 18).
Nach diesem Maßstab ist für die Funktionseinschränkungen der Klägerin nur ein GdB von 40 gerechtfertigt und die Schwerbehinderteneigenschaft nicht festzustellen. Dabei stützt sich der Senat auf die eingeholten Befundberichte nebst Anlagen, die versorgungsärztlichen Stellungnahmen, die Arztbriefe sowie die vorgelegten Diabetikertagebücher der Klägerin.
Das zentrale Leiden der Klägerin betrifft das Funktionssystem "Innere Sekretion und Stoffwechsel" und wird durch den insulinpflichtigen Diabetes mellitus geprägt. Der Diabetes mellitus ist bei ihr mit einem Grad der Behinderung von 40 ab dem 20. April 2010 zu bewerten. Auf der Grundlage der Zweiten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 14. Juli 2010 gilt:
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
Das BSG hat mit Urteil vom 2. Dezember 2010 (B 9 SB 3/09 R, zitiert nach juris) diese Neufassung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze für rechtmäßig erklärt (vgl. BSG a.a.O. Rdn. 26) und für die Zeit vor Inkrafttreten der Verordnung unter Hinweis auf das Urteil vom 24. April 2008 (B 9/9a SB 10/06 R) bei der Bewertung des Einzel-GdB eines insulineingestellten Diabetes mellitus neben der Einstellungsqualität insbesondere den jeweiligen Therapieaufwand hervorgehoben, soweit sich dieser auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt. Hierbei ist der GdB eher niedrig anzusetzen, wenn bei geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht werden kann. Bei einem beeinträchtigenden, wachsenden Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilere Stoffwechsellage) wird der GdB entsprechend höher zu bewerten sein. Dabei sind - im Vergleich zu anderen Behinderungen - die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu prüfen (BSG a.a.O. Rdn. 33). Bei therapiebedingten Einschränkungen in der Lebensführung können z.B. die Planung des Tagesablaufs, die Gestaltung der Freizeit, die Zubereitung der Mahlzeiten, die Berufsausübung und die Mobilität beachtet werden (vgl. Begründung zur Verordnungsänderung, BR-Drucksache 285/10 S. 3 zu Nr. 2).
Durch die Neufassung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Diabetes mellitus erfordert die Feststellung eines GdB von 50 nicht nur mindestens vier Insulininjektionen pro Tag und ein selbständiges Anpassen der jeweiligen Insulindosis. Zusätzlich muss es - sei es bedingt durch den konkreten Therapieaufwand oder die jeweilige Stoffwechselqualität oder wegen sonstiger Auswirkungen der Erkrankung (z.B. Folgeerkrankungen) zu einer gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung kommen.
Die Formulierung in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen in Teil B Nr. 15.1 "und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind" ist daher nicht nur therapiebezogen zu verstehen, auch wenn der Wortlaut eine derartige Auslegung durch den nachfolgenden Satz ("erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung") ein anderes Verständnis zumindest möglich erscheinen lässt. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind in der genannten Formulierung vielmehr dahingehend zu verstehen, dass neben dem eigentlichen Therapieaufwand durch die notwendigen Insulininjektionen und die ständige jeweilige Dosisanpassung eine zusätzliche Wertung notwendig ist, um die Schwerbehinderung zu rechtfertigen. Der am insulinpflichtigen Diabetes mellitus Erkrankte muss daher wegen des reinen Therapieaufwandes und/oder den durch die Erkrankung eingetretenen weiteren Begleitfolgen generell gravierende Einschritte in der Lebensführung erleiden. Bei der ausschließlich therapiebezogenen Auslegung, wie sie das SG vertreten hat, ist die Schwerbehinderung schon dann zu bejahen, wenn der Behinderte bereits einen Therapieaufwand von mindestens vier Insulininjektionen sowie eine notwendige selbständige Variation der Insulindosis zu bewältigen hat. Dieser Auslegung ist nicht zu folgen. Sie ist bereits nach dem Wortlaut der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht zwingend. Dass zusätzlich ein gravierender Einschnitt in die Lebensführung festgestellt werden muss, ergibt sich aus den vorhergehenden Formulierungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen für einen GdB von 30 bis 40. Hiernach sind für die Bewertung der Teilhabeeinschränkung der konkrete Therapieaufwand und die jeweilige Stoffwechselqualität von wertungserheblicher Bedeutung. Diese beiden Kriterien müssen entsprechend auch bei der höheren Bewertungsstufe eines GdB von 50 noch bedeutsam sein. Für die besondere Bedeutung der Stoffwechsellage spricht auch, dass nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen allein bereits eine Erhöhung des GdB rechtfertigen können. Demgegenüber würde die streng therapiebezogene Auslegung zu kaum vertretbaren Wertungswidersprüchen im Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen bei anderen Erkrankungen anderer Funktionssysteme führen. Vergleicht man die ganz erheblichen Einschränkungen in der Lebensführung bei Erkrankungen, für die ein GdB von mindestens 50 zu vergeben wäre, ist es nach Auffassung des Senats nicht vertretbar, einen Therapieaufwand von vier Insulininjektionen und einer notwendigen Insulinanpassung allein bereits mit einer erheblichen Teilhabeeinschränkung ohne weiteres gleichzusetzen.
Beispielsweise ist ein GdB von mindestens 50 bei einer Colitis ulcerosa erst bei schweren Auswirkungen (anhaltende oder häufig rezidivierende erhebliche Beschwerden, erhebliche Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes, häufige, tägliche, auch nächtliche Durchfälle) festzustellen (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze B 10 2.2, S. 71). Im Falle einer Lungenerkrankung (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, B 8.3, Seite 61) ist für einen GdB von 50 eine mittelgradige Einschränkung der Lungenfunktion zu fordern, die zu einer das gewöhnliche Maß übersteigenden Atemnot bei alltäglicher leichter Belastung führen würde (z.B. Spaziergehen [3-4 km/h], Treppensteigen bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche Arbeit). Für den Bereich der Psyche sind hierfür schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen (vgl. Versorgungsmedizinsche Grundsätze, B 3.7, S. 42) und im Falle einer Herzerkrankung eine Leistungsbeeinträchtigung bereits bei alltäglicher leichter Belastung zu verlangen (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, B 9.12, S. 64).
Betrachtet man diese einschneidenden Teilhabebeeinträchtigung bei diesen Erkrankungen, die häufig eine teilweise oder vollständige Erwerbsunfähigkeit nach sich ziehen dürften, kann das Merkmal "gravierende und erhebliche Einschnitte in der Lebensführung" nicht nur therapiebedingt verstanden werden. Daher sind die Stoffwechsellage und die konkreten krankheitsbedingten Auswirkungen bei der Teilhabeeinschränkung zu berücksichtigen (so offenbar auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. Juli 2011 - L 4 SB 182/10, zitiert nach juris).
Ein GdB von 50 setzt damit mindestens vier Insulininjektionen pro Tag, ein selbständiges Anpassen der Insulindosis und gravierende und erhebliche Einschnitte in der Lebensführung voraus. Diese Anforderungen für einen GdB von 50 erreicht die Klägerin nicht. Sie führt nicht ständig eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durch, wie dies die Versorgungsärztin S. unter dem 23. Dezember 2010 überzeugend ausgeführt hat. Auch kommt es nach der Einschätzung der Versorgungsärzte nach Auswertung der Unterlagen nicht zu einer ständigen Dosisanpassung der Insulingabe. Damit bewegt sich die Klägerin bereits unterhalb des Mindestumfangs des Therapieaufwandes, den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze für die Feststellung eines GdB von 50 verlangen. Neben der täglichen Injektion mit einem langwirksamen Insulin muss die Klägerin bei hohen Morgenwerten, zu jeder Mahlzeit und bei Nebenerkrankungen das kurz wirkende Insulin einsetzen und dabei auch die jeweilige Insulindosis variieren. Dies ist jedoch nicht ständig der Fall, sondern offenbar von den jeweiligen Begleitumständen (Alltagsbelastung; berufliche Anforderungen; Reisetätigkeit usw.) der Klägerin abhängig. Hinzu kommen ständige Blutzuckermessungen zu jeder Mahlzeit und ggf. bis zu sechsmal täglich, die jedoch nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht erhöhend zu berücksichtigen sind.
Selbst wenn zu Gunsten der Klägerin ein Therapieaufwand von mindestens vier Insulininjektionen und eine ständige Dosisanpassung anzunehmen wäre, fehlt es jedenfalls an erheblichen Einschnitten, die sich so gravierend auf ihre Lebensführung auswirken, dass die Feststellung einer Schwerbehinderteneigenschaft gerechtfertigt werden kann. Die Klägerin wird trotz des einschränkenden Therapieaufwandes nicht noch zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in ihrer Leistungsfähigkeit und damit in ihrer Teilhabefähigkeit am Leben erheblich beeinträchtigt. Betrachtet man die therapiebedingten oder auch erkrankungsbedingten Einschränkungen in der konkreten Lebensführung, lässt sich eine gravierende Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht erkennen. Der Senat folgt insoweit der nachvollziehbaren Gesamteinschätzung der Versorgungsärztin Dr. S. in ihrer Stellungnahme vom 30. September 2011 und der von Dr. W. vom 13. Februar 2012. So geht die Klägerin nach ihren eigenen Angaben einer Außendiensttätigkeit mit einem hohen und belastungsintensiven Anforderungsprofil nach und bewältigt diese Anstrengungen offenbar ohne wesentliche krankheitsbedingten Einschränkungen seit vielen Jahren. Auch betreibt sie, wenn auch nicht regelmäßig, Sport, ohne daran durch ihre Erkrankung gehindert zu sein. Zudem konnte sie offenbar mehrstündige Flugreisen ins Ausland und längere Auslandsaufenthalte (z.B. Thailand) ohne gravierende gesundheitliche Probleme durchführen. Die witterungsspezifischen Besonderheiten, um die Einsatzfähigkeit des Insulins sicherstellen zu können, sind zwar von ihr immer zu beachten, führen jedoch noch nicht zu einer erheblichen Teilhabebeeinträchtigung. Gleiches gilt für die von der Klägerin genannten Einschränkungen, sei es der Ausschluss bestimmter Sportarten (Fliegen, Tauchen), die ständige Kontrolle und Abwägung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel, die hygienische Aufmerksamkeit bei den Injektionen und die häufigen Blutzuckermessungen.
Zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen (ärztliche Fremdhilfe) ist es bei der Klägerin nach Beginn der Insulintherapie noch nie gekommen. Auch wesentliche Folgeschäden sind durch den Diabetes mellitus noch nicht eingetreten. Gegen gravierende Einschränkungen spricht auch der relativ stabile HbA1c-Wert der Klägerin, der sich weitgehend im Normbereich bewegt und als gut bis befriedigend bewertet werden kann (so zuletzt Dr. W. am 13. Februar 2012). Dies wird auch durch die Befundberichte der die Klägerin behandelnden Diabetologin bestätigt und entspricht im Übrigen auch der Selbsteinschätzung der Klägerin, die ihren HbA1c-Wert selbst als "gut" bezeichnet. Beachtliche Mobilitätseinschränkungen vermochten weder die behandelnden Ärzte angeben noch die Klägerin selbst berichten. Die von ihr angegebenen Nachteile durch ihre Stoffwechselerkrankung sind zwar einschränkend und belastend, jedoch nicht gravierend im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Die Grenze zur Schwerbehinderung und eines GdB von 50 ist damit noch nicht erreicht.
Die Klägerin leidet nach den vorliegenden Befunden und ihrem eigenen Sachvortrag unter keinen weiteren Erkrankungen, sodass für eine Erhöhung des GdB aufgrund von Behinderungen in einem weiteren Funktionssystem kein Raum verbleibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegt vor. Das BSG hat zwar zur Frage des Therapieaufwandes in dem Urteil vom 2. Dezember 2010 - B 9 SB 3/09 R (zitiert nach juris) klarstellende Ausführungen gemacht. Diese Entscheidung beschäftigt sich jedoch schwerpunktmäßig nur mit der Frage, inwieweit eine sportliche Betätigung für die GdB-Bewertung bei Diabetes mellitus von Bedeutung sein kann (BSG a.a.O., Rdn. 40 ff). Die vom Senat vorgenommene Auslegung der neuen Versorgungsmedizinischen Grundsätze hat grundsätzliche Bedeutung und erfordert gerade wegen des untrennbaren Zusammenhangs zwischen Therapieaufwand und der jeweiligen Stoffwechsellage (Therapieerfolg) sowie der jeweiligen Gewichtung beider Elemente einer Klarstellung.