Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 7 SB 31/10 - Urteil vom 19.02.2014
Die rückwirkende Feststellung eines Behinderungsgrades ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt, soweit es sich um einen Erstantrag und nicht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB handelt. Die Beschränkung auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X findet nur Anwendung, wenn nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist. Diese Einschränkung folgt im Hinblick auf das nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auszuübende Verwaltungsermessen. Sofern die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellung gebieten. Dagegen muss die Feststellungsbehörde im Verfahren einer Erstfeststellung bei Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses durch den Antragsteller uneingeschränkt prüfen und entscheiden, ob und seit wann die geltend gemachte Eigenschaft schon vor der Antragstellung bestanden hat. Eines über die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses hinausgehenden besonderen Korrektivs etwa in Form der Offensichtlichkeit bedarf es nicht, weil entsprechende Anträge sich nach Aufklärung des Sachverhalts nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast behandeln lassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch über die rückwirkende Feststellung der Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Auf Antrag des am ... 1945 geborenen Klägers stellte der Beklagte wegen einer Sehbehinderung mit Bescheid vom 26. August 1992 einen GdB von 30 fest. Nach Widerspruch des Klägers stellte der Beklagte zusätzlich eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest (Abhilfebescheid vom 7. Dezember 1992). Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 25. Juni 1996 stellte der Beklagte nach medizinischen Ermittlungen zusätzlich ein Wirbelsäulenleiden mit chronischem Schmerzsyndrom fest, lehnte jedoch eine Erhöhung des GdB ab (Bescheid vom 13. November 1996). Auf den Widerspruch des Klägers wurden die Behinderungen neu gefasst (psychisch depressive Störung, Blindheit des rechten Auges, Migräne, Hypertonie, Arm- und Lendenmuskelreizsyndrom bei umformenden Veränderungen der Wirbelsäule), dem Widerspruch abgeholfen und ein GdB von 60 festgestellt (Bescheid vom 18. Dezember 1996). Nach einem Überprüfungsverfahren hob der Beklagte den Abhilfebescheid wegen einer wesentlichen Verbesserung auf (Bescheid vom 27. September 1999) und zog nach einem Widerspruch des Klägers weitere medizinische Unterlagen aus einem Rentenverfahren bei (u.a. ein orthopädisches Gutachten von Dr. K-M. vom 24. Mai 1997, ein psychiatrisches Gutachten von der Nervenärztin Dr. B. vom 21. Juni 1997 sowie ein psychiatrisches Gutachten von Dr. M./ Dr. A. vom 16. April 1999 für das gerichtliche Verfahren S 6 RA 288/98. Dr. K.-M. hielt den Kläger auf orthopädischem Gebiet für leichte körperliche Arbeiten ohne anhaltende Zwangshaltungen für vollschichtig arbeitsfähig. Dabei äußerte sie den Verdacht auf eine neurotische Persönlichkeit mit psychogener Überlagerung des diffusen Schmerzsyndroms. Dr. B. diagnostizierte u.a. eine neurotische Fehlentwicklung mit abnormem Kränkungserleben und hypochondrischer Erlebnis- und Fehlverarbeitung einer seit der Kindheit bestehenden Analfistel bei histrionischer Persönlichkeit. In dem psychiatrischen Gutachten vom 16. April 1999 führten die Sachverständigen aus: Der Kläger sei als jüngster von drei Söhnen in L. auf der Flucht der Eltern aus O. geboren worden. Der warmherzige und gutmütige Vater sei als Kriegsinvalide mit der neuen Situation nicht zurechtgekommen und habe sich der sehr dominanten Mutter völlig untergeordnet. Die Mutter habe gegenüber dem Kläger sehr häufig gewalttätig reagiert und seine Brüder bevorzugt. Hieran habe auch die erfolgreiche Ausbildung zum Diplom-Ingenieur nichts geändert. Die Kindheit sei "beschissen" gewesen. Er sei von den anderen Kindern immer nur verlacht worden. Mit fünf Jahren habe er an einem sehr schmerzhaften "Geschwür am Hintern" (Analfistel) gelitten. Dieses hätte sich immer wieder entzündet, sei in den schlimmen Auswirkungen von der Umgebung nicht richtig erkannt und zum Anlass für Spott genommen worden. Durch die Sehstörung am rechten Auge habe er z.B. beim Ballspielen nicht richtig fangen können und sei deswegen "als Mädchen" verlacht worden. In die Schule sei er eigentlich recht gern gegangen, wobei gute schulische Leistungen von der Mutter nie anerkannt worden seien. Nach der zehnten Klasse habe er eine Lehre zum Maschinenschlosser mit gutem Ergebnis absolviert und bis 1966 als Schlosser gearbeitet. Von 1966 bis 1971 sei er als Schlosser in L. tätig gewesen. Ab 1971 habe er ein Studium der Fachrichtung Automatisierungstechnik der chemischen Industrie aufgenommen und dieses erfolgreich als Ingenieur abschließen können. Anschließend habe er sich bis zum Abteilungsleiter und Stellvertreter des Direktors für Wissenschaft und Technik hochgearbeitet. Im Jahr 1986 habe er die politisch geprägten betrieblichen Entscheidungen nicht mehr mittragen können. Dies habe zu seiner Ablösung und einem Wechsel in eine fachlich bezogene Arbeit geführt. Seit dieser Zeit seien zunehmend gesundheitliche Probleme aufgetreten. Nach der Wende habe er erfolgreich verschiedene Kündigungsprozesse führen müssen und zuletzt vom ehemaligen Arbeitgeber einen Abfindungsanspruch sowie Lohnnachzahlungen erstritten. Von 1993 bis 1994 habe er eine Umschulung zur technischen Fachkraft für Immobilienbewirtschaftung gemacht. Von Februar bis Juli 1995 sei er als Bauleiter tätig gewesen, jedoch wegen "nicht eingetretener Entwicklungstendenzen des Unternehmens" ausgeschieden und seit August 1995 ohne Beschäftigung. Es habe in der Folgezeit diverse Prozesse vor dem Sozialgericht (SG) gegeben. Er habe manchmal den Eindruck, dass auf Ämtern und Behörden nur Räuber und Verbrecher zu finden seien. Er fühle sich "dieser Mistbande" wehrlos ausgeliefert und "renne immer nur gegen die Wand." Die Sachverständigen führten weiter aus: Beim Kläger bestehe eine psychomotorische Unruhe mit Affektlabilität, Anspannung und Gereiztheit. Im Kontaktverhalten sei er zwar zugewandt und gesprächsbereit, jedoch gleichzeitig auch mürrisch, an vielen Stellen höhnisch und zynisch. Dabei bleibe er misstrauisch und distanziert. Die Stimmung erscheine bedrückt, dysphorisch, verbittert und aggressionsgeladen. Die Frustrationstoleranz sei herabgesetzt, die Konfliktbewältigungsstrategien mangelhaft ausgebildet. Der Kläger sei äußerst leicht kränkbar und reagiere auf Ablehnung, Misserfolg und vermeintliche Angriffe überempfindlich. Es bestehe eine extreme Tendenz zur Sicherung des eigenen Standpunkts. Sein Verhalten wirke auf andere zum Teil skurril und "unbelehrbar". Der Kläger zeige eindeutig querulatorische Tendenzen, die mit einer unveränderbaren Überzeugung verbunden seien, ihm würden in böswilliger Weise fortwährend Rechtskränkungen zugefügt. Auffällig seien massive Abwehrmechanismen im Sinne von Schuldzuweisungen für alles Fehlgeschlagene oder Negative in seinem Leben. Der Kläger sehe sich in einer lebenslangen Leidens- und Opferrolle und fühle sich permanent vom Schicksal benachteiligt. Missliche Ereignisse würden als absichtliche Anfeindung gewertet, wobei er unbeirrbar, zäh und äußerst nachtragend, sthenisch und rigide erscheine. Bei ihm würden seelische Konflikte in eine körperliche Symptomatik umgewandelt. Die schwer gestörten Verhaltens- und Symptommuster liefen unbewusst, unkontrolliert und ungesteuert ab, was mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden sei. Diagnostisch sei von einer chronifizierten Fehlentwicklung bei schwerer paranoider Persönlichkeitsstörung mit zunehmend querulatorischer Entwicklung auszugehen. In akribisch zwanghafter Weise sammle der Kläger immer "neues Beweismaterial". Beispielsweise habe er der Gutachterin einen Text von 58 Seiten vorgelegt. Die Ausführungen enthielten seitenlange detaillierte Ausführungen zu seinen körperlichen Symptomen und den damit verbundenen Einschränkungen. Typisch für diese Störung sei eine Eskalation in eine chronisch querulatorische Haltung mit extremer Einseitigkeit und mitunter verschrobener Argumentation. Der hartnäckig und aggressiv geführte Rechts- bzw. Rentenkampf habe weniger die Versorgung der eigenen Person zum Ziel, sondern diene der Wiederherstellung des vermeintlichen Rechts. Die aus der beschriebenen Störung resultierenden Persönlichkeitsmerkmale seien gravierend und einer therapeutischen Beeinflussung nur schwer oder überhaupt nicht zugänglich. Die beschriebene Krankheitsentwicklung habe eine Tendenz zum sozialen Rückzug, Isolation und einem verringerten physischen und psychischen Leistungsvermögen. Ein vollschichtiger Einsatz in der Arbeitswelt sei aus psychiatrischer Sicht ausgeschlossen.
Mit Bescheid vom 14. März 2000 hob der Beklagte den Bescheid vom 27. September 1999 auf und stellte mit Wirkung zum 7. Oktober 1999 als Behinderungen fest:
Psychoreaktive Störungen mit körperlichen Beschwerden, Migräne und Blasenleiden,
Sehverlust des rechten Auges,
Bluthochdruck,
Funktionsminderungen und Beschwerden der Wirbelsäule infolge degenerativer Veränderungen mit Muskelreizerscheinungen.
Der Gesamt-GdB betrage 60.
Nach einem Neufeststellungsantrag des Klägers vom 30. November 2000 wegen einer Krebserkrankung der Prostata zog der Beklagte einen Arztbrief der O.-v. G.-U. M. vom 8. Dezember 2000 bei. Hiernach sei der Kläger vom 13. November bis 28. November 2000 stationär wegen eines Prostatakarzinoms Stadium pt2a pNO MO G 1b (C61) behandelt worden. Die radikale Prostatovesikulektomie sei am 15. November 2000 erfolgt. Daraufhin hob der Beklagte den Bescheid vom 14. März 2000 wieder auf, stellte neben den bereits anerkannten Behinderungen den Verlust der Prostata bei Erkrankung in Heilungsbewährung zusätzlich fest und erkannte ab dem 30. November 2000 auf einen Gesamt-GdB von 80 (Bescheid vom 22. Januar 2001).
Am 25. November 2005 beantragte der Kläger die Überprüfung der bisherigen GdB-Feststellung und übergab ein selbst geschriebenes Buch unter dem Titel "Fachmedizin So sollte sie (nicht) sein" mit 142 Seiten Umfang einschließlich eines detaillierten Wortverzeichnisses von den im Buch verwandten Begriffen mit jeweiliger Seitenangabe. Die "Interstitielle Zystitis" sei nach sozialgerichtlichen Entscheidungen des SG Münster und des SG Halle allein mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten und daher der vom Beklagten zuerkannte GdB für die Vergangenheit immer zu gering gewesen. Der Beklagte zog einen Befundschein des Urologen Dr. L. vom 13. Dezember 2005 bei, der beim Kläger eine chronische interstitielle Zystitis, einen Zustand nach Prostatavesikulektomie nach Prostatakarzinom und eine erektile Dysfunktion organischen Ursprungs diagnostizierte. Hiernach bestehe beim Kläger seit ca. 1996 eine chronische therapieresistente interstitielle Zystitis mit einer nachfolgenden Urgeinkontinenz einschließlich rezidivierender Unterbauchschmerzen. Die Erkrankung sei mit einer deutlichen psychischen und physischen Beeinträchtigung verbunden.
Der Versorgungsarzt Dr. H. sprach sich in Auswertung des Befundes für einen Gesamt-GdB von 60 aus. Nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit ergebe sich kein Hinweis auf ein Rezidiv. Mit Schreiben vom 12. April 2006 hörte der Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigen Herabsetzung des GdB auf 60 an. Dem widersprach der Kläger mit Schreiben vom 2. Mai 2006 und hielt einen Gesamt-GdB von 80 für die bisherigen Behinderungen für zutreffend. Darüber hinaus müsse die seit 1996 bestehende interstitielle Zystitis als seltene, jedoch schwerwiegende chronische Erkrankung zusätzlich berücksichtigt werden. Insoweit werde auf das überzeugende Urteil des SG Halle (S 1 SB 58/04) verwiesen. Er verlange für diese Erkrankung daher einen Einzel-GdB von 60 sowie zusätzlich das Merkzeichen "G". Der Kläger machte detaillierte Ausführungen zu seinem Beschwerdebild.
In einem eingeholten Arztbrief der Klinik W. vom 12. Mai 2006 über einen stationären Aufenthalt vom 5. bis 26. April desselben Jahres diagnostizierte der ärztliche Direktor Privatdozent Dr. V. neben den bereits bekannten Diagnosen eine Harnblasendivertikel, eine Lactoseintoleranz, Morbus Meulengracht, Colondivertikulose, Reizdarm, belastungsinduzierte hypertone Dsyregulation, eine latente Hyperthyreose, eine Beinlängenverkürzung, Verdacht einer Somatisierungsstörung, Osteochondrose, MRT-nachgewiesener Bandscheibenvorfall L3/4 sowie Protrusion L4/5 und L5/S1, Epikondylitis lateralis sowie Zustand nach Denervations-OP rechts und Epikondylitis lateralis. Neben Schmerzen im Urogenitaltrakt habe der Kläger über häufigen Harndrang und einen oft überfallartigen Stuhldrang berichtet. Der Allgemeinzustand sei mittelgradig eingeschränkt. Daneben habe er auch über Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Angstzustände, Stimmungsschwankungen und zwischenmenschliche Probleme berichtet. Angebotene psychologische Beratungsgespräche habe der Kläger für nicht nötig erachtet. Im orthopädischen Befund zeige sich eine freie Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Der Finger-Boden-Abstand betrage 0 cm, die Beweglichkeit der Rumpfwirbelsäule sei nicht einschränkt. Die großen und kleinen Gelenke seien frei beweglich. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. H. gab unter dem 25. Juni 2005 verschiedene Messdaten an, auf die Bezug genommen wird.
Mit Bescheid vom 9. August 2006 hob der Beklagte den Bescheid vom 22. Januar 2001 auf und stellte ab dem 1. September 2006 einen GdB von 60 ohne das Merkzeichen "G" fest. Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 16. August 2006. Am 25. September 2006 stellte der Kläger klar, dass er einen Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) bereits im Jahr 2005 gestellt habe. In einem Schreiben vom 15. Oktober 2006 beschreibt der Kläger nochmals sein komplexes Beschwerdebild und legt in einem dezidierten Vortrag von insgesamt 33 Seiten dar, dass ihm bereits in der Vergangenheit ein Gesamt-GdB von 100 und das Merkzeichen "G" zugestanden hätte. Auf Blatt 259 bis 291 der Verwaltungsakte wird Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 22. Januar 2007 lehnte der Beklagte eine Rücknahme der Bescheide vom 22. Oktober 2001 sowie vom 9. August 2006 ab. Der Bescheid enthielt einen Hinweis gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Hiergegen legte der Kläger am 1. Februar 2007 Widerspruch ein, verlangte die Aufhebung der Bescheide vom 22. Januar 2001 und vom 9. August 2006, einen höheren Gesamt-GdB sowie die rückwirkende Anerkennung des Merkzeichens "G". Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Für die psychoreaktive Störung mit körperlichen Beschwerden und Migräne, den Sehverlust des rechten Auges, eine Blasenerkrankung (interstitielle Zystitis) mit häufigem Harndrang, eine erektile Dysfunktion, Verdauungsstörungen und plötzlichen Stuhlgang bei Dickdarmvertikeln, Bluthochdruck und degenerativen Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom und Bewegungsminderung der Lendenwirbelsäule sei ein Gesamt-GdB von 60 berechtigt. Zum Zeitpunkt der Heilungsbewährung sei der GdB zutreffend mit einem GdB von 80 bewertet worden.
Am 26. Februar 2007 hat der Kläger beim SG Magdeburg Klage erhoben und einen deutlich höheren Gesamt-GdB sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" verlangt. Insbesondere die interstitielle Zystitis sei eine schwerwiegende Erkrankung, die mit nachhaltigen Beeinträchtigungen verbunden und höher zu bewerten sei.
Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Der Facharzt für Urologie Dr. L. hat am 14. Februar 2008 über einen konstanten Krankheitsverlauf berichtet. Der Hausarzt Dr. S. hat am 25. Februar 2008 einen häufigen Harndrang des Klägers, Schmerzen im Unterbauch, einen überfallartigen Stuhldrang, Blähungen, Erschöpfung, Nervosität, Durchschlafstörungen und Stimmungsschwankungen diagnostiziert.
Chefarzt Prof. Dr. R. (D-Krankenhaus D.) hat in einem vom SG eingeholten urologischen Gutachten vom 4. Mai 2009 ausgeführt: In der Anamnese hat der Kläger angegeben, er habe Schmerzen im Bereich der Blase, des Darms und der Hoden, die eine Intensität von fünf bis sechs nach der Schmerzskala aufwiesen. Am Tage betrage die Miktionshäufigkeit sieben bis zehn Mal, während nachts die nächtliche Miktion zwischen acht bis neun Mal liege. Dabei habe er nie das Gefühl, die Blase vollständig entleert zu haben. Die Beschwerden bestünden seit dem Jahr 1996. Seit dem Jahr 2002 bestehe zudem eine erektile Dysfunktion, die medikamentös nicht behandelt werde könne. Eine Prüfung der Urodynamik habe ein maximales Füllvolumen der Blase von 100 ml ergeben. Der erste Harndrang trete bereits bei 30 ml auf. Zusammenfassend leide der Kläger an einer Drangsymptomatik als typische Begleitfolge einer interstitiellen Zystitis. Die stark verminderte Blasenkapazität führe dabei zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität. Für die Blasenentleerungsstörung werde ein Einzel-GdB von 60 vorgeschlagen. Hinzu komme die erektile Dysfunktion mit einem Einzel-GdB von 20. Der Gesamt-GdB sei daher mit 60 einzuschätzen.
Nach Auswertung des Gutachtens hat sich der Beklagte bereit erklärt, ab dem 4. Mai 2009 einen Gesamt-GdB von 70 festzustellen. In einer beigefügten prüfärztlichen Stellungnahme vom 17. Juni 2009 hat die Versorgungsärztin S.-S. ausgeführt: Für das psychische Leiden sei ein Einzel-GdB von 50 anzuerkennen. Die Blasenerkrankung sei ab Mai 2009 mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. So habe sich im Vergleich der urologischen Befunde das Blasenvolumen seit dem Jahr 2006 von 190 ml auf 100 bis 150 ml vermindert. Auch die nächtliche Miktionsfrequenz habe zugenommen. Für die weiteren Erkrankungen ergebe sich keine Veränderung, so dass von einem Gesamt-GdB von 70 seit Mai 2009 auszugehen sei. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" seien nicht gegeben.
Der Kläger ist dieser Bewertung entgegengetreten und hat geltend gemacht: Die erektile Dysfunktion sei mit einem Einzel-GdB von 20 viel zu niedrig bewertet, da es sich nicht nur um eine leichte Behinderung handele. Der für das Jahr 1996 geltende Bescheid sei nichtig, da die interstitielle Zystitis allein mit einem Einzel-GdB von 60 hätte bewertet werden müssen, was auch für das Merkzeichen "G" gelte. Hilfsweise seien ein Gesamt-GdB von 100 sowie das Merkzeichen "G" ab dem 22. Januar 2001 zuzuerkennen. Weiter hat der Kläger u.a. einen Arztbrief des St. Krankenhauses D., Klinik für Urologie vom 23. November 1998 vorgelegt. Darin berichtete der Chefarzt Dr. H. über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 4. bis 15. August 1998 mit der Diagnose einer Blasenhalssklerose. Der Kläger habe über heftigste Miktionsbeschwerden im Sinne von Pollakis- und Dsyurie geklagt. Operativ sei eine transurethrale Resektion eines Prostatamittellappenadenoms vorgenommen worden. In einem weiteren Arztbrief vom 6. Dezember 1999 berichtete der Klinikdirektor Prof. Dr. H. (Klinik und Poliklinik für Urologie, M.) über eine ambulante Behandlung seit dem 8. Juni 1999. Der Kläger habe über Beschwerden im Damm- bzw. Prostatabereich sowie über häufigen Harndrang, Nykturie und Libidostörungen berichtet. Medikamentöse Behandlungen seien erfolglos geblieben, wobei eine psychische Überlagerung auffällig gewesen sei. Für eine psychologische oder psychiatrische Behandlung sei der Kläger nicht zugänglich gewesen.
In der öffentlichen Sitzung vom 19. Mai 2010 hat der Kläger ergänzend ausgeführt: Es gehe ihm wegen der fehlerhaften Bewertung der interstitiellen Zystitis um eine rückwirkende Anerkennung eines höheren GdB sowie des Merkzeichens "G". Bezüglich der erektilen Dysfunktion habe das Gericht vom zuständigen Ministerium weitere Grundlagen einzuholen. Sowohl der Begriff als auch die Bewertung dieser Erkrankung sei grundsätzlich zu hinterfragen und bedürfe einer umfassenden Überprüfung. Bezüglich des rückwirkenden Antrages beziehe er sich auf sein Schreiben vom 24. November 2005. Wegen der rückwirkenden Feststellung bezüglich der interstitiellen Zystitis beziehe er sich auf den Operationsbericht des St. Krankenhauses M. vom 23. November 1998, der ärztliche Feststellungen zu seinen Beschwerden enthalte. Die Diagnose einer interstitiellen Zystitis sei erst viel später gestellt worden. Bezogen auf eine rückwirkende Anerkennung eines höheren GdB sowie des Merkzeichens "G" erwarte er sich konkrete Steuervorteile.
In der Sitzung des SG vom 19. Mai 2010 hat der Kläger beantragt:
1. den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 9. August 2006 und 22. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 aufzuheben und bei ihm einen GdB von 80 % über den 1. September 2006 hinaus festzustellen.
2. den Beklagten zu verurteilen, die Bescheide vom 27. September 1999, 14. März 2000, 22. Januar 2001, 9. August 2006, 22. Januar 2007 und den Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2007 dahingehend abzuändern, dass bei ihm nach § 44 SGB X rückwirkend ein GdB von 100 und das Merkzeichen "G" ab dem 23. November 1998 festgestellt werden.
3. hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung der Bescheide vom 22. Januar 2001, 9. August 2006, 22. Januar 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 bei ihm einen Grad der Behinderung von 100 sowie das Merkzeichen "G" gemäß § 44 SGB X rückwirkend ab dem 22. Januar 2001 festzustellen.
Das SG hat mit Urteil vom selben Tage den Beklagten verurteilt, den Bescheid vom 9. August 2006 und 22. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 aufzuheben und beim Kläger einen GdB von 80 über den 1. September 2006 hinaus festzustellen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Herabsetzung des GdB von 80 auf 60 sei gemäß § 48 SGB X rechtswidrig, da keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sei. Die interstitielle Zystitis bedinge allein einen Einzel-GdB von 60 und werde mit einer chronischen Harnwegsentzündung stärkeren Grades nicht angemessen abgebildet. Diese Erkrankung habe bereits zum 1. September 2006 beim Kläger vorgelegen. Hinzu trete eine psychoreaktive Störung, die mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten sei. Daneben bestünden ein Sehverlust des rechten Auges (Einzel-GdB 30), eine erektile Dysfunktion (Einzel-GdB 20), ein Reizdarm (Einzel-GdB 20) sowie ein Bluthochdruck (Einzel-GdB 20). Das Merkzeichen "G" sei dagegen nicht festzustellen, da der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens eingeschränkt sei. Für eine rückwirkende Feststellung eines höheren GdB bzw. des Merkzeichens "G" fehle es an Darlegungen, die ein besonderes Interesse des Klägers begründen könnten.
Gegen das ihm am 10. Juni 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. Juni 2010 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und zur Begründung in einer 89-seitigen Berufungsbegründungsschrift vorgetragen: Selbst auf der Grundlage der Einschätzungen des SG mit drei erheblichen Einzelbehinderungen hätte bereits ein Gesamt-GdB von 100 vergeben werden müssen. Dazu seien dann noch die weiteren Einzelbehinderungen zu berücksichtigen, die einen Einzel-GdB von 20 und mehr rechtfertigten. Vergleiche man allein die Bewertung für die Colitis Ulcerosa, sei wegen seiner häufigen Durchfälle ein Einzel-GdB von 30 festzustellen. Auch der Bluthochdruck sei eher mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Eine Fehlbewertung liege auch bei der erektilen Dysfunktion vor, die komplexe und schwerwiegende Folgen für den Betroffenen habe. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze verschleierten dabei die tatsächlichen Auswirkungen von Prostataoperationen und seien in ihrer pauschalen Bewertung von 20 geradezu willkürlich. Die darauf bezogenen Bewertungskriterien seien unklar und bedürften einer weiteren Sachverhaltsaufklärung für die Einschätzung der dafür maßgeblichen Kriterien. Die Auswirkungen der interstitiellen Zystitis (vgl. Urteil des SG Düsseldorf vom 30. Oktober 2000) hätten Auswirkungen auf die Gehfähigkeit und rechtfertigen das Merkzeichen "G". Beim längeren Laufen habe er gravierende Schmerzen, die dann auch längere Zeit anhielten und die Gehfähigkeit erheblich einschränkten. Auch der vermehrte Harn- und Stuhldrang mache ein regelmäßiges Laufen unmöglich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. Mai 2010 sowie den Bescheid vom 22. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung der Bescheide vom 13. November 1996, 27. September 1999, 14. März 2000, 22. Januar 2001 sowie vom 17. Juni 2010 bei ihm vom 23. November 1998 bis 14. November 2000 einen GdB von 90, ab 15. November 2000 bis 31. August 2006 einen GdB von 100 und ab 1. September 2006 einen GdB von 90 festzustellen sowie das Merkzeichen "G" ab 23. November 1998 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hat mit Ausführungsbescheid vom 17. Juni 2010 festgestellt, dass beim Kläger ab dem 1. September 2006 weiterhin ein GdB von 80 vorliegt.
Wegen der anhängigen Rechtsfrage beim BSG (B 9 SB 3/10 R) zur rückwirkenden GdB-Feststellung haben sich Beteiligten zunächst mit einem Ruhen des Verfahrens einverstanden erklärt (Beschluss vom 19. Mai 2011). Nach Verkündung des Urteil des BSG hat der Kläger sein Vorbringen in einem weiteren 51-seitigen Schriftsatz vertieft und im Wesentlichen ausgeführt: Die erektile Dysfunktion sei eher im Sinne des Totalverlustes des männlichen Geschlechtsorgans zu würdigen, was einen deutlich höheren Einzel-GdB als 20 rechtfertigen dürfte. Die erektile Dysfunktion lediglich als leichte Behinderung einzuordnen, werde der tatsächlichen Teilhabeeinschränkung nicht gerecht und grenze schon an "Volksverdummung". Für die rückwirkende Feststellung eines höheren GdB sowie für das Merkzeichen "G" sei ein besonderes Interesse gegeben, da ihm dann beispielsweise ein Steuerrückerstattungsanspruch für die Kfz-Steuer in Höhe von 50 % zustehen würde. Zur Frage des Merkzeichens "G" bei der interstitiellen Zystitis habe das SG Halle eine instruktive Entscheidung vom 2. November 2004 (S 1 SB 58/04) getroffen. Hierin werde in einer vergleichenden Bewertung eine chronische Blasenentzündung mit Minderung des Kräftezustandes als "inneres Leiden" bewertet, was sich ähnlich wie bei Herz- und Lungenleiden auf die Gehfähigkeit auswirke.
Der Berichterstatter hat vom Kläger unter dem 9. Januar 2012 Angaben zu konkreten Vorteilen für die rückwirkende Feststellung des GdB bzw. des Merkzeichens "G" verlangt. Hierzu hat der Kläger für die Zeit von 1997 bis 2012 Berechnungen über Rückforderungsansprüche angestellt und seine Kfz-Steuer-Belege vorgelegt.
Das Finanzamt M. hat auf gerichtliche Nachfrage erklärt: Bei einer rückwirkenden Änderung des GdB seien entsprechende Steuerbescheide jederzeit änderbar (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung).
Der Kläger hat medizinische Befunde zur Gerichtsakte gereicht, die der Versorgungsarzt Dr. W. unter dem 20. Juli 2012 ausgewertet hat: Hinsichtlich der psychoreaktiven Störungen mit körperlichen Beschwerden sowie der Migräne verbleibe es bei einem Einzel-GdB von 50. Nach Mitteilung des Urologen sei kein Rezidiv entstanden. Wegen der maximalen Blasenfüllung von 100 ml, dem Harndrang und der Stuhlinkontinenz sei kein höherer Einzel-GdB als 50 möglich. Die erektile Dysfunktion sei mit einem GdB von 20 bereits am maximalen Beurteilungsspielraum. Die Verdauungsstörung mit plötzlichem Stuhlgang bei Dickdarmdivertikel sei mit einem Einzel-GdB von 20 einzuschätzen. Der Bluthochdruck sei mit einem Einzel-GdB von 20 korrekt bewertet. Der EF-Wert von 60 habe eine gute Pumpfunktion des Herzens gezeigt. Für die Wirbelsäulenerkrankung lägen nur ältere Befunde vor, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten seien. Zusammenfassend betrage der Gesamt-GdB 80 ab dem 30. November 2000.
Der Senat hat Befundberichte von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. S., dem Facharzt für Urologie Dipl.-Med. J., der Fachärzte für Orthopädie Dres. B. u.a. sowie der Fachärztin für Orthopädie Dr. H., dem Facharzt für Urologie Dr. L. und der Gemeinschaftspraxis Dres. S. eingeholt. Dr. L. hat unter dem 23. Juli 2012 u.a. eine interstitielle Zystitis, eine Urgeinkontinenz sowie eine erektile Dysfunktion organischen Ursprungs diagnostiziert. Das Leistungsvermögen sei konstant schlecht mit deutlicher Beeinträchtigung der Lebensqualität. Beim Kläger bestehe eine unverändert therapieresistente Urgeinkontinenz, eine Pollakisurie (jede Stunde), die mit einem teilweise quälenden Harndrang und Unterbauchbeschwerden verbunden seien. Dr. S. hat mitgeteilt, der Kläger habe sich letztmalig im März 2009 vorgestellt. Dipl.-Med. S. hat am 23. Juli 2012 mitgeteilt, der Kläger habe sich letztmalig am 27. Januar 2000 vorgestellt. Er habe über ständige Kopfschmerzen, Depressionen und Überforderung geklagt. Dipl.-Med. J. hat berichtet, er habe den Kläger letztmalig am 1. Dezember 1998 behandelt. Dres. B. u.a. haben für den Behandlungszeitraum 1998 bis 1999 degenerative Veränderungen an der Hals- und Lendenwirbelsäule diagnostiziert. Die Gehfähigkeit sei aus orthopädischer Sicht nicht eingeschränkt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens durch den Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Ernährungs- und Sozialmedizin Dr. M. vom 18. Oktober 2013 (Untersuchung vom 28. und 29. Mai 2013), der zur Anamnese ausgeführt hat: Der Kläger sei seit der Geburt auf dem rechten Auge blind und könne lediglich Hell-Dunkel-Kontraste wahrnehmen. Seit dem Jahr 1958 habe er Migränebeschwerden, die gelegentlich mit Aura verbunden seien. Die Migräneanfälle seien verstärkt im Winterhalbjahr. Der letzte Therapieversuch mit Triptan habe keine Besserung gebracht. Er behandele sich jetzt selbst mit Schmerz-Dolgit, Ibuprofentropfen sowie Bettruhe im abgedunkelten Raum. Seit dem 14. Lebensjahr habe er Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei einem Beckenschiefstand. Beschwerden im Ellenbogen führten zu einer Epikondylitits-Operation im Jahr 1993, die jedoch keine Besserung gebracht habe. Im Jahr 2009 sei ein Impingementsyndrom der rechten Schulter festgestellt worden. Er könne mit der rechten Hand keine anstrengenden Überkopfarbeiten ausführen. Urologisch habe er zunächst an Harnsteinen gelitten. Im Jahr 1998 sei es zur ersten transurethralen Resektion der Prostata gekommen. Dies habe sich zwei Mal im Jahr 2000 wiederholt. Am 15. November 2000 sei es zur Prostataektomie wegen eines Karzinoms in diesem Bereich gekommen. Eine Anschlussheilbehandlung sei wegen Schmerzen nicht angetreten worden. Die Operation habe zu einer erektilen Dysfunktion geführt. Der Einsatz einer Vakuumpumpe habe keinen Erfolg gebracht. Seit dem Jahr 2002 sei es wiederholt zu Entzündungen des rechten Hodens und des Nebenhodens gekommen. Eine Operation des rechten Nebenhodens habe zunächst Besserung gebracht. Seit Juni 2010 seien wieder verstärkt Beschwerden aufgetreten, was am 19. Juli 2010 zu einer Teilresektion des linken Nebenhodens geführt habe. Seit einer Epididymektomie links am 7. Dezember 2010 habe er verstärkt Missempfindungen in diesem Bereich. Prof. Dr. R. habe in dessen Gutachten erstmals eine interstitielle Zystitis diagnostiziert. Ab dem Jahr 1995 hätten sich Stuhlunregelmäßigkeiten mit bis zu sieben täglichen Durchfällen mit imperativem Stuhlgang gezeigt. Wegen Blutbeimengungen im Stuhl seien erneut Koloskopien durchgeführt worden. Eine Proktitis sei wiederholt behandelt worden. Der Verdacht auf einen Morbus Crohn habe sich nicht beweisen lassen. Seit dem Jahr 2009 habe er weiterhin sieben Stuhlgänge pro Tag. Der Stuhldrang setzte plötzlich ein und sei mit Bauchschmerzen verbunden. In diesem Zusammenhang seien auch Hämorrhoiden diagnostiziert worden. Im Verlauf der gastroenterologischen Symptomatik sei eine Laktose-Intoleranz festgestellt worden. Er verbrauche ca. 120 Laktasetabletten im Monat. Im Jahr 1990 sei ein Morbus Meulengracht diagnostiziert worden. Im Januar 2003 sei eine Gallensteinoperation erfolgt. Seit dem Jahr 2007 bestünden Stimmstörungen sowie ein Reizhusten. Eine Schilddrüsenüberfunktion im Jahr 2008 habe erfolgreich im Jahr 2010 behandelt werden können. Kardiologisch bestehe seit dem Jahr 1973 ein Bluthochdruck. Seit Anfang 2013 habe er bei Selbstmessungen zu niedrige Herzfrequenzen festgestellt und eine Kardiologin aufgesucht. Diese habe eine leicht eingeschränkte linksventrikuläre Funktion festgestellt. Der Appetit sei normal und das Gewichtverhalten konstant. Der Kläger habe angegeben, er müsse in der Nacht zwischen drei bis zehn Mal wegen des Harndranges zur Toilette. Er halte es aus, dass bis zu 50 ml in der Blase seien. Dies gelte aber nicht bei körperlichen Aktivitäten, da dann bereits 30 ml Blasenfüllung zu Schmerzen führen würden. Aktuell suche er ca. zwölf Mal täglich die Toilette auf. Nach der Blasenentleerung höre der Harndrang nicht auf. Die Miktionsfrequenz führe zu einer Einschränkung des Nachtschlafes.
Zu seinem Tagesablauf hat der Kläger erklärt: Er stehe gewöhnlich um 7.30 Uhr auf und frühstücke mit seiner Frau. Danach lese er Zeitung und beschäftige sich mit seinen "Gerichtsvorgängen" bis zum Mittagessen. Nach dem Mittag gegen 11.30 Uhr halte er Mittagsruhe bis 15.00 Uhr. Danach gehe es zum Einkaufen. Zwischen 18.00 Uhr bis 20.00 Uhr erfolge das Abendbrot, welches vor dem Fernseher eingenommen werde. Ab 23.00 Uhr beginne die Nachtruhe. Dies sei mit Ausnahme von wöchentlichen Besuchen bei Verwandten an jedem Tag der Woche so. Zwei Mal im Jahr werde für sieben bis zehn Tage verreist, wobei er warme Gegenden bevorzuge (Ägypten, Spanien und Portugal [2012]). Bei Flugreisen sei das Aufsuchen der Toilette kein Problem. Öffentliche Veranstaltungen besuche er genau wie Preisskatturniere nicht mehr. Sein Hobby sei es jetzt, "das Sozialgerichtsverfahren zu Ende zu führen" und Probleme in der Sozialgesetzgebung durch Eingaben bei öffentlichen Stellen aufzuzeigen. Für die Ehefrau sei es schwierig mit ihm auszukommen, da er sich auf sein Sozialgerichtsverfahren stark konzentriere und für andere Dinge kaum ansprechbar sei. Seine Impotenz belaste die Ehe. In den Jahren 1990 bis 1995 seien sie noch drei bis vier Mal im Jahr in Urlaub gefahren. Lange Autofahrten seien ihm jedoch wegen seiner Blasenerkrankung nicht mehr möglich. Seit seinem Umzug von H. nach M. im Jahr 2000 habe er die zuvor täglichen Spaziergänge deutlich reduziert. Spaziergänge gebe es nur noch bei gutem Wetter, wobei er auch dazu von seiner Ehefrau angehalten werden müsse. Aktuell mache er wöchentlich noch einen Spaziergang von seiner Wohnung zur E. und zurück (ca. 1 km; 30 Minuten), wobei er Sitzpausen einlegen müsse. In H. habe er noch einen größeren Freundeskreis vor allem mit Arbeitskollegen gehabt. Ein Treffen der Arbeitskollegen finde alle fünf Jahre statt. Die Ehefrau habe neue Freunde in M. gefunden. Das Hobby seiner Ehefrau sei "Shopping", wobei es ihm nicht bekomme, die Einkäufe zu begleiten. Das Sozialgerichtsverfahren sei für ihn zum Lebensziel geworden, schränke jedoch seine Lebensqualität erheblich ein, da er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren könne.
Zum körperlichen Untersuchungsbefund hat der Sachverständige angegeben: Der Kläger sei in gutem Allgemeinzustand und normalem Ernährungszustand (Gewicht: 80 kg; Körperlänge: 184 cm; BMI: 23,63 kg/m²). Die Herzfrequenz betrage 72/min und der Ruheblutdruck 122/90 mmHg. Die Rumpfbeweglichkeit sei eingeschränkt. Der Finger-Bodenabstand betrage 40 cm. Im Bereich der Psyche fielen eine stockende Sprechweise sowie ein sehr überlegter sprachlicher Ausdruck auf. So korrigiere sich der Kläger häufig in seinen eigenen Formulierungen. Fragen würden weitschweifig mit häufigem Rückblick auf die gesamte Krankheitsgeschichte beantwortet. Der Kläger habe zur Untersuchung eine Akte im Umfang von ca. 300 Seiten bei sich geführt und habe einige Fragen erst nach Einsicht in seine Selbstaufzeichnungen beantwortet. Es entstehe der Eindruck, als wenn die Lebenswelt des Klägers von seinen Erkrankungen, deren sozialrechtlicher Konsequenz und einem subjektiven Unrechtsbewusstsein geprägt und nahezu völlig ausgefüllt werde. Während der Anamnese von 9.00 bis 14.00 Uhr sei der Kläger drei Mal auf Toilette gegangen. Am Folgetag sei es zu keinen Unterbrechungen durch Toilettengänge gekommen.
Das Ruhe-EKG habe vereinzelt monomorphe ventrikuläre Extrasystolen gezeigt. Unter Medikation bestehe eine leicht hypertone Blutdruckregulation. Eine Fahrradergometrie habe maximal einen Belastungsgrad von 125 Watt gezeigt, was 89 % des alters- und gewichtskorrigierten Sollwerts entspreche. Der Herzbefund sei normal. Im 6-Minuten-Gehtest habe der Kläger 331 Meter erreicht. In 20 Minuten habe der Kläger 932 Meter zurückgelegt, wobei er Schmerzen im Bereich Blase und Darm sowie im linken Bein angegeben habe. Das Füllvolumen der Blase sei mit 130 ml anzugeben. Dieser Wert sei auch vom behandelnden Urologen Dr. L. mit einer maximalen Blasenkapazität von 100 bis 150 ml angegeben worden. Zusammenfassend sei dieser Bereich mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten. Die chronische Zystitis habe erheblichen Einfluss auf die Alltagsbewältigung und beschränke die Mobilität, die sozialen Kontakte und das Familienleben. Dabei sei jedoch nicht nur die urologische Erkrankung, sondern auch die deutliche psychische und psychosomatische Komponente für das Krankheitserleben zu beachten. Die erektile Dysfunktion sei wegen der vollständigen Impotentia coiundi mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Mit Eintritt der Heilungsbewährung sei die Entfernung der Prostata nicht mehr als zusätzliche Erkrankung zu werten. Die interstitielle Zystitis sowie die Impotentia coeundi decke die Symptomatik sowie das Beschwerdebild vollständig ab. Dies gelte auch für die Teilresektion bzw. Komplettentfernung des Nebenhodens. Diese Erkrankung habe keine GdB-erhöhende Auswirkungen. Das Verhalten des Klägers bestätige die fachpsychiatrischen Feststellungen aus dem Jahre 1999. Er betrachte die sozialrechtliche Auseinandersetzung als bedeutsamen Lebensinhalt, dem er sich bevorzugt widme. Die Lebensführung werde zeitlich und inhaltlich durch die somatisierten Symptome und den aus wirklichen oder vermeintlichen Rechtskränkungen angestoßenen Kampf um die Anerkennung von Forderungen geprägt. Dies hindere den Kläger an einer sozialen Integration. Er fühle sich unverstanden, zeige egozentrische, auf andere ungewöhnlich bis bizarr wirkende Denk- und Verhaltensweisen. Dabei fühle er sich stets benachteiligt bis wertlos, was sich in vielen Lebensbereichen zeige. Die Differenzierung zwischen den Einschränkungen im Urogenitaltrakt und psychopathologischen Verhaltensauffälligkeiten sei schwierig. Der langjährige Krankheitsverlauf habe die Teilhabemöglichkeiten deutlich verengt. Trotz der fehlenden psychiatrischen Qualifikation und der Überschneidung mit somatischen Erkrankungen sei die psychische Störung höher als bisher eingeschätzt zu werten und hierfür ein Einzel-GdB von 60 anzunehmen. Auf gastroenterologischem Gebiet bestehe ein häufiger Stuhlgang, eine wiederkehrende Proktitis (seit 2007), Hämorrhoiden, eine operativ versorgte Mariske (2011). Orientiere man dieses Symptombild an den Folgen einer Colitis Ulcerosa oder dem Morbus Chron, sei nicht von einem häufigen Durchfall und keiner Einschränkung des Kräfte- und Ernährungszustandes auszugehen. Für die Störung der Darmfunktion sei daher ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Dabei würden die durch die chronische Zystitis verursachten häufigen Toilettenbesuche und die vom Kläger eingeräumten parallelen Stuhl- und Harndrangsituationen mit berücksichtigt. Die Lactoseintoleranz habe nicht nachgewiesen werden können. Die Einnahme der Lactasetabletten sei medizinisch streitig. Der Morbus Meulengracht führe zu einer gestörten Bilirubinaufnahme, sei jedoch meist symptomlos. Ein GdB sei entsprechend nicht zu vergeben. Für die chronische Gastritis sowie die Abdominalbeschwerden sei ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Die vom Kläger angegebene Sprach- und Stimmstörung sowie ein Reizhusten seien während der Untersuchung nicht aufgefallen. Die lungentechnischen Untersuchungen seien unauffällig geblieben. Der Bluthochdruck sei unter Medikation auf 140/90 mmHg eingestellt worden. Die aktuelle Untersuchung habe normale Blutdruckwerte gezeigt. Hinweise für eine hypertensive Herzerkrankung lägen nicht vor. Subjektiv vom Kläger wahrgenommene Herzrhythmusstörungen habe das Langzeit-EKG nicht bestätigen können. Da keine Organbeteiligung bestehe, sei der Einzel-GdB auf 10 einzuschätzen. Der Kläger habe sich als "schielblind" auf dem rechten Auge bezeichnet. Zum tatsächlichen Ausmaß der Sehstörung fehle es an augenärztlichen Befunden. Bei der Begutachtung sei keine erhebliche Fehlstellung beider Augen aufgefallen. Es müsse offen bleiben, ob tatsächlich ein latentes Schielen vorliege. Eine erhebliche Fehlsichtigkeit des schielenden Auges ergebe sich meist durch den Strabismus cometas, das sog. Begleitschielen, was ohne Behandlung eine lebenslange Fehlsichtigkeit des schielenden Auges auslösen könne, die bis zur einseitigen Blindheit führen könne. Die Anamnese ergebe keine Hinweise auf erhebliche Einschränkungen des Sehens im Alltag. So habe der Kläger die Tätigkeit als Ingenieur sowie das Autofahren offenbar problemlos bewältigt. Je nach Intensität der Sehstörung sei von einem Einzel-GdB von 10 bis 30 auszugehen. In den vorhergehenden Befunden sei die sog. Schielblindheit nicht kritisch hinterfragt worden. Gleichwohl werde - trotz Zweifeln - von einem Einzel-GdB von 30 ausgegangen. Eine neurologische Abklärung der Migräne sei nicht erfolgt. Die Angaben des Klägers blieben wenig konkret. Im vorliegenden Fall könne für die Migräne von einem Einzel-GdB von 10 ausgegangen werden. Mögliche Einschränkungen des sozialen Kontakts und der Teilhabe seien bei den anderen Behinderungen bereits berücksichtigt. Die Beweglichkeit der oberen Extremität sei durch ein Impingementsyndrom eingeschränkt. Der Einzel-GdB sei mit 10 einzuschätzen, da die Beweglichkeitsgrenze von 120° eindeutig übertroffen werde. Bezogen auf die Wirbelsäule seien geringe funktionale Auswirkungen sowie seltene und kurz auftretende Wirbelsäulensyndrome festzustellen. Hierfür sein ein Einzel-GdB von 10 zu vergeben. Auf orthopädischem Gebiet betrage der GdB daher insgesamt 10. Die Brandnarbe der rechten Wade nach einem Motorradunfall sowie die operative Sanierung ließen einen Einzel-GdB nicht zu. Die Schilddrüsenüberfunktion bei Struma nodosa 1. Grades sei mit Radiojod behandelt worden. Die euthyreote Stoffwechsellage rechtfertige ebenfalls keinen Einzel-GdB. Zusammenfassend sei beim Kläger bei Würdigung aller Erkrankungen von einem Gesamt-GdB von 90 auszugehen. Das Merkzeichen "G" sei wegen den Folgen der Zystitis dabei nicht zu vergeben. Weder nach der Anamnese noch auf der Grundlage der Untersuchungen bestehe ein Harndrangintervall von weniger als 30 Minuten. Der Kläger meide größere Wegstrecken wegen der Unsicherheit, eine Toilette rechtzeitig erreichen zu können. Dies sei jedoch nur eine psychisch bedingte Einschränkung, die allein in diesem Funktionssystem zu bewerten sei. So habe der Kläger im Gehtest 932 Meter in 20 Minuten zurückgelegt. Beim Test sei auffällig gewesen, dass der Kläger beim 6-Minuten-Gehtest bereits 331 Meter habe zurücklegen können. Bei gleichbleibender Gehgeschwindigkeit hätte dies eine Gehstrecke von 1100 Metern erwarten lassen. Der Kläger habe das Gehtempo jedoch verringernd, ohne den Bereich einer erschöpfenden Ausdauerbelastung zu erreichen, wie er dies bei der Spiroergometrie gezeigt habe. Der Gehtest habe auch nicht wegen des Harndrangs unterbrochen werden müssen. Zusammenfassend erscheine es dem Kläger daher möglich 2000 Meter in altersgemäßer Zeit zu bewältigen. Im Vergleich zu Probanden mit Muskelerkrankungen erreiche der Kläger keine vergleichbare Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten.
Der Beklagte hat das Gutachten versorgungsärztlich auswerten lassen. In einer Prüfärztlichen Stellungnahme vom 25. November 2013 hat Dr. W. ausgeführt, er halte eine Gesamt-GdB von 80 für angemessen und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" für nicht gegeben.
Der Kläger hat sich in einem 109-seitigen Schriftsatz vom 9. Dezember 2013 sowie einem weiteren 22-seitigen Schriftsatz vom 18. Dezember 2013 mit dem Gutachten sowie der versorgungsärztlichen Stellungnahme auseinandergesetzt und im Wesentlichen geltend gemacht: Zu Unrecht habe der Sachverständige seine Ansprüche nur bis auf das Jahr 1998 und nicht auf das Jahr 1997 medizinisch ausgewertet. Selbst auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen mit Einzel-GdB von 60 für die harnableitenden Organe sowie die Psyche und wegen der Auswirkungen der erektilen Dysfunktion (Einzel-GdB 20) sei ein Gesamt-GdB von 100 zu bilden. Betrachte man zusätzlich die weiteren Behinderungen könne an einem Gesamt-GdB von 100 kein Zweifel mehr bestehen. Die Bewertung des Durchfalls sei unzureichend und in den Folgen tatsächlich deutlich schlimmer als dies der Sachverständige angenommen habe. So könne er wegen dieser Stuhlunregelmäßigkeiten über mehrere Stunden das Haus nicht verlassen. Der Einzel-GdB müsse daher hierfür höher eingeschätzt werden. Die erektile Dysfunktion werde systematisch fehlbewertet und generell zu gering eingeschätzt. Das Merkzeichen "G" müsse zuerkannt werden.
Der Sachverständige hat sich unter dem 29. Januar 2014 mit den Schriftsätzen des Klägers auseinandergesetzt und geltend gemacht: Es sei ein Anliegen des Gutachters gewesen, den besonderen Leidensdruck des Klägers zu erfassen, der sich mit somatischen Erkrankungen nicht mehr allein erklären lasse. Trotz der Zweifel an den Auswirkungen der Sehbehinderung habe er den Einzel-GdB von 30 für die Blindheit eines Auges übernommen. Die gastroenterologische Anamnese sei im Beisein des Klägers und dessen Einverständnis so formuliert worden. Der Kläger habe seit 1995 Stuhlunregelmäßigkeiten von bis zu sieben täglichen Durchfällen angegeben. Während der Anamnese habe er nicht das Absetzen größerer Mengen dünnflüssigen Stuhls behauptet, so dass die Diagnose "Diarrhöe" nicht gerechtfertigt wäre. Wäre tatsächlich eine Diarrhö mit monatelang sieben Stühlen pro Tag aufgetreten, hätte sich der Ernährungszustand des Klägers ungünstig verändern müssen und sich laborchemisch durch nachweisbare Pathologika zeigen müssen. Dies sei beim Kläger jedoch nicht der Fall. Von daher bestehe entgegen seiner Ansicht keine Darmerkrankung mit erheblichen Auswirkungen. Überdies werde das "Toilettenverhalten" des Klägers wesentlich durch die urologischen und psychiatrischen Befunde geprägt. Die vom Kläger mitgeteilte Septumsdicke des Herzmuskels bewege sich mit 11 mm noch im Normbereich. Für das verlangsamte Gehtempo beim Test lasse sich keine plausible Erklärung finden. Blutdruckbedingte Schädigungen des Augenhintergrundes oder der beteiligten Organe seien nicht bekannt. Bei der Zusammenfassung der Einzel-GdB könne nicht nur summiert werden. Vielmehr seien die Funktionseinschränkungen sowie Teilhabeminderungen und mögliche Überschneidungen dabei zu berücksichtigen. Das im Gutachten aufgeführte pathologische Füllungsvolumen von 130 ml sei falsch angegeben worden. Der verbliebene Restharn von 35 ml sei nicht relevant pathologisch. Sozialmedizinisch relevante Herzrhythmusstörungen seien beim Kläger nicht gefunden worden. Eine Colitis Ulcerosa oder ein Morbus Crohn seien trotz umfangreicher Diagnostik nie nachgewiesen worden. Für die Diagnose einer Laktoseintoleranz fehlten positive Testergebnisse. Bei einer derartigen Diagnose sollte eine Ernährungsberatung stattfinden, die nach Aktenlage nicht ersichtlich sei. Die Auswirkungen dieser Erkrankungen seien im Gutachten sehr wohl bewertet, aber nicht als weitere eigenständige Teilhabestörung angesehen worden.
Mit Schreiben vom 13. Februar 2010 hat der Beklagte klargestellt, dass am Bescheid vom 9. August 2006 nicht mehr festgehalten werde und ab dem 1. September 2006, wie im Ausführungsbescheid vom 17. Juni 2010 ausgeführt, von einem GdB von 80 ausgegangen werde.
In einem vom Kläger in der Sitzung vom 19. Februar 2014 überreichten 33-seitigen Schriftsatz vom selben Tage hat er ergänzend ausgeführt: Das Gericht sei seiner Bitte um einen Erörterungstermin nicht nachgekommen, sondern habe einfach eine mündliche Verhandlung anberaumt. Für die Stellungnahme zum Schreiben von Dr. M. habe er lediglich zwölf Tage Zeit gehabt. Der Sachverständige habe den Verlust der Prostata in Heilungsbewährung nicht berücksichtigt, was zu einem Gesamt-GdB von 100 hätte führen müssen. Nach eigenen zeitbezogenen Modellrechnungen für die Berechnung des Gesamt-GdB ergäben sich Werte von über 100, so dass ein Gesamt-GdB von 100 feststehe. Hinzu kämen dann noch weitere Erkrankungen, die mit einem Einzel-GdB von 20 und höher zu bewerten seien, die noch nicht einmal einbezogen worden seien. Die Verdauungsstörungen seien vom Gutachter verharmlost worden und mit der Verdachtsdiagnose eines Morbus Crohn erklärbar. Ob Durchfälle und Diarrhoe gleich zu behandeln seien, müsse durch den Ärztlichen Beirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales geklärt werden. Die Erkrankungen im Herz-Kreislauf-Bereich seien ebenfalls unzutreffend bewertet. Zu Unrecht sei das Jahr 1997 nicht geprüft worden, sondern in einem "Knebelvertrag" auf das Jahr 1998 beschränkt worden.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch statthafte Berufung des Klägers ist teilweise begründet.
1. Soweit der Beklagte mit Bescheid vom 9. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 den Bescheid vom 22. Januar 2001 aufgehoben und den GdB wegen Heilungsbewährung von 80 auf 60 herabgesetzt hat, besteht zwischen den Beteiligten kein Streit mehr. Der Beklagte hat die darauf bezogenen Bescheide im Ausführungsbescheid vom 17. Juni 2010 konkludent zurückgenommen. Dies hat der Beklagte in seinem Schreiben vom 13. Februar 2014 nochmals ausdrücklich klargestellt.
2. Streitgegenstand des Verfahrens ist damit nur noch der Bescheid vom 22. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 soweit es der Beklagte abgelehnt hat, die Bescheide vom 22. Oktober 2001 und 9. August 2006 zurückzunehmen. Der vom Beklagten im Verwaltungsverfahren vorgenommene Prüfungsumfang greift dabei jedoch inhaltlich zu kurz, da es dem Kläger im Kern um die Überprüfung aller Bescheide geht, soweit ihm nicht ab dem 23. November 1998 ein GdB von 100 sowie das Merkzeichen "G" zuerkannt worden ist. Gegenstand des Überprüfungsantrages ist damit auch der Bescheid vom 14. März 2000, in dem der Beklagte ab dem 7. Oktober 1999 einen GdB von 60 festgestellt und den zuvor erlassenen Bescheid vom 27. September 1999 (GdB von 50 ab dem 1. Oktober 2010) wieder aufgehoben hatte. Gleiches gilt für den Bescheid vom 13. November 1996, in dem mit Wirkung ab dem 25. Juni 1996 unter Aufhebung des Abhilfebescheides vom 7. Dezember 1992 ein GdB von 30 festgestellt worden war.
Ein Verwaltungsakt erwächst, wenn gegen ihn nicht oder erfolglos ein Rechtsbehelf eingelegt wird, gemäß § 77 SGG in Bestandskraft. Bestandskraft bedeutet, dass ein Bescheid formell unanfechtbar wird und materiell im Interesse der Rechtssicherheit für die Beteiligten Bindungswirkung entfaltet. Eine Durchbrechung dieser Bestandskraft ist im Sinne der Gewährleistung der Rechtssicherheit nur unter ganz eingeschränkten Voraussetzungen möglich. Für das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren regelt dies § 44 SGB Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), wobei dieser Regelung die Überlegung des Gesetzgebers zu Grunde liegt, dass bei einer Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit der Gerechtigkeit der Vorrang zu geben ist (vgl. Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 5. September 2006, B 2 U 24/05 R). § 44 SGB X eröffnet zwei Alternativen für die Rücknahme. Entweder muss bei der bestandskräftig gewordenen Entscheidung das Recht unrichtig angewandt worden oder der Verwaltungsträger muss beim Erlass des bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts von einem Sachverhalt ausgegangen sein, der sich nachträglich als unrichtig erwiesen hat.
Hier macht der Kläger einen vom Beklagten unrichtig bewerteten medizinischen Sachverhalt geltend, der zu einem höheren GdB sowie zur Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab dem 23. November 1998 führen soll. Diesen Anspruch verfolgt der Kläger mit einer zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG.
Der Anspruch richtet sich nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG) in der Fassung der Neubekanntmachung vom 26. August 1986 sowie nach den am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Vorschriften des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) vom 19. Juni 2001. Hinsichtlich der Maßstäbe für die Bestimmung des Begriffs der Behinderung ergeben sich durch die zum 1. Juli 2001 erfolgte Ablösung des SchwbG durch das SGB IX keine für das Verfahren maßgeblichen Unterschiede. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 SchwbG bzw. § 69 Abs. 5 Satz 1 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie ggf. über weitere gesundheitliche Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen aus.
Dabei ist die rückwirkende Feststellung nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt, soweit es sich um einen Erstantrag und nicht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB handelt (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Die Beschränkung auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X findet nur Anwendung, wenn nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Diese Einschränkung folgt im Hinblick auf das nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auszuübende Verwaltungsermessen. Sofern die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellung gebieten (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Dagegen muss die Feststellungsbehörde im Verfahren einer Erstfeststellung bei Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses durch den Antragsteller uneingeschränkt prüfen und entscheiden, ob und seit wann die geltend gemachte Eigenschaft schon vor der Antragstellung bestanden hat (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Eines über die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses hinausgehenden besonderen Korrektivs etwa in Form der Offensichtlichkeit bedarf es nicht, weil entsprechende Anträge sich nach Aufklärung des Sachverhalts nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast behandeln lassen (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.).
Nach diesem Maßstab ist zunächst festzustellen, dass der Kläger keine rückwirkende Erstfeststellung begehrt, sondern die Rücknahme einer unanfechtbaren bindenden GdB-Feststellung sowie für das Merkzeichen "G" für die Vergangenheit verlangt. Die Erstfeststellung von Behinderungen beim Kläger erfolgte bereits auf seinen Antrag vom 24. Juni 1991 hin wegen einer Sehbehinderung mit Bescheid vom 26. August 1992 in Gestalt des Abhilfebescheides vom 7. Dezember 1992. Der Senat geht dabei von einer rechtswidrigen Fehlbewertung des Beklagten aus, da dieser die seit November 1998 als gesichert bestehende Diagnose der interstitiellen Zystitis sowie eine Urgeinkontinenz und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen zu Lasten des Klägers nicht berücksichtigt hatte.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen wie zuvor nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SchwbG die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung knüpft materiellrechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und zuvor in § 3 Abs. 1 SchwbG bestimmten Begriff der Behinderung an. § 3 Abs. 1 SchwbG definierte Behinderung als die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruhte. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 3 Abs. 2 SchwbG war die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung und nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (in der Satzzählung der alten Fassung) gelten wie zuvor nach § 3 Abs. 3 SchwbG für den GdB die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX bzw. zuvor des § 4 SchwbG der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt.
§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX ist durch das insoweit am 21. Dezember 2007 in Kraft getretene Gesetz vom 13. Dezember 2007 (a.a.O.) geändert worden. Nach der früheren Fassung der Vorschrift galten für den GdB die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Nach dem Wortlaut der früheren Fassung des ebenfalls durch das Gesetz vom 13. Dezember 2007 geänderten § 30 Abs. 1 BVG war für die Beurteilung die körperliche und geistige Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben maßgeblich, wobei seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen waren. Nach der Neufassung des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für den GdB die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach der damit in Bezug genommenen neuen Fassung des § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades - dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch den dem § 30 BVG durch das Gesetz vom 13. Dezember 2007 angefügten Absatz 17 ermächtigt worden ist.
Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt und sind damit nunmehr der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen. Zuvor dienten der Praxis als Beurteilungsgrundlage die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene Sachverständigengutachten eine normähnliche Wirkung hatten (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 3 Rdnr. 12, m.w.N.). Die in den Anhaltspunkten (letzte Ausgabe von 2008) enthaltenen Texte und Tabellen, nach denen sich die Bewertung des Grades der Behinderung bzw. der Schädigungsfolge bisher richtete, sind - im Wesentlichen inhaltlich unverändert - in diese Anlage übernommen worden (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.). Die im vorliegenden Fall heranzuziehenden Abschnitte aus den Anhaltspunkten in den Fassungen von 2004, 2005 und 2008 bzw. aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen sind nicht geändert worden. Im Folgenden werden die Vorschriften der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zitiert. Die Begriffe GdS und GdB werden dabei nach gleichen Grundsätzen bemessen. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch, dass sich der GdS kausal auf Schädigungsfolgen und sich der GdB final auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von deren Ursachen auswirkt (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil A: Allgemeine Grundsätze 2 a).
Durch die Neuregelung ist den Einwänden gegen die bisherigen "Anhaltspunkte" jedenfalls für den vorliegenden Fall der Boden entzogen worden. Zum einen ist durch die Neuregelung die auch von der Rechtsprechung geforderte Rechtsgrundlage für die bisherigen "Anhaltspunkte" geschaffen worden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 28. September 2007, BT-Drucks. 16/6541, S. 1, 31). Zum anderen ist durch die Verweisung des neu gefassten § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auf die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG klargestellt worden, dass auch für die Feststellung des GdB "die allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen" maßgeblich sind. Zudem hatte sich auch schon zu der früheren Fassung des § 69 Abs. 1 SGB IX eine ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gebildet, nach der trotz der Ersetzung des Schwerbehindertengesetzes durch das SGB IX inhaltlich das Beurteilungsgefüge der Anhaltspunkte maßgeblich geblieben war (vgl. BSG, Urt. v. 24. April 2008 - B 9/9a SB 6/06 R - in juris RdNr. 15 m.w.N.).
Der hier streitigen Bemessung des Grads der Behinderung ist die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Teil A) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a).
Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen des Klägers für die Zeit der Krebserkrankung und Prostataoperation ab 15. November 2000 bis zum Ende der Heilungsbewährungszeit am 14. November 2005 ein GdB von 100 sowie für die Zeiträume vom 23. November 1998 bis zum 14. November 2000 sowie ab dem 15. November 2005 ein GdB von jeweils 80 zuerkannt werden. Die ablehnenden Bescheide des Beklagten soweit sie sich auf das Merkzeichen "G" bezogen haben, sind dagegen rechtmäßig, da dem Kläger zu keinem Zeitpunkt das Merkzeichen "G" zugestanden hat.
a. Das zentrale Leiden des Klägers betrifft das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche". Für dieses kann durchgehend seit dem 23. November 1998 ein GdB von 50 festgestellt werden.
Nach den Anhaltspunkten 1996, 2004, 2005 und 2008 sowie den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil B 3.9.) werden leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 0 bis 20 bewertet. Für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) ist ein Bewertungsrahmen von 30 bis 40 vorgesehen. Schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten werden mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit 80 bis 100 bewertet. Psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Behinderungsgrad von 30 bis 40 rechtfertigen, sind nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates (BMA am 18./19.03.1998 - zitiert nach Rohr/Sträßer, Teil B: GdS-Tabelle-19, 96. Lfg. - Stand Dezember 2011) durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet. Dieses Kriterium ist zur differenzierenden Einschätzung von Anpassungsschwierigkeiten analog auch dann heranzuziehen, wenn die Symptomatik der psychischen Störungen ganz unterschiedlich ist (Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, BMA am 8./9.11.2000, Rohr/Sträßer, a.a.O., GdS-Tabelle-18). Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten setzen neben den Auswirkungen im Berufsleben erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung voraus (Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, BMA am 18./19.03.1998 - zitiert nach Rohr/Sträßer, a.a.O., GdS-Tabelle-19).
Der Kläger leidet unter einer chronifizierten Fehlentwicklung bei schwerer paranoider Persönlichkeits- mit querulatorischer Entwicklung. Diese bereits im Sachverständigengutachten vom 16. April 1999 gestellte Diagnose ist auch nach dem gerichtlichen Gutachten von Dr. M. noch aktuell. Dies gilt auch gerade vor dem Hintergrund, dass sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben seit 1999 keiner psychotherapeutischen Behandlung unterzogen hat. Die zwanghaft erscheinende Prozessführung des Klägers, schriftlich mit äußerster Hingabe auf vielen Seiten das eigene Beschwerdebild und die eigene Rechtsauffassung bis ins kleinste Detail darzulegen und zu bekräftigen, bestätigt die Auffassung des Sachverständigen, dass dieser Prozess für den Kläger zum eigentlichen Lebensinhalt geworden ist. Mit dieser ungewöhnlichen Fokussierung sowie der damit verbundenen Einschränkung der Lebensqualität lässt sich eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten begründen. In dem hierfür vorgesehenen Bewertungsrahmen zwischen 50 bis 70 hält der Senat - entgegen der Einschätzung von Dr. M., der sich für einen Einzel-GdB von 60 ausgesprochen hatte - dagegen einen Einzel-GdB von 50 für angemessen. Betrachtet man den vom Sachverständigen dargestellten Tagesablauf des Klägers und den persönlichen Eindruck, den der Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 19. Februar 2014 vermittelt hat, vermag er sich situationsadäquat zu verhalten und zumindest teilweise noch Selbstreflektionen vorzunehmen. So hat er auf rechtliche Hinweise beispielsweise von seinem Vorhaben, einen höheren GdB seit 1997 zu verlangen, Abstand nehmen können und sich nach den rechtlichen Möglichkeiten für ein mögliches Revisionsverfahren erkundigt. Auch kann der Kläger, wenn auch mit deutlichen Einschränkungen, den Freizeitwünschen seiner Ehefrau, sei es bei wöchentlichen Verwandtenbesuchen, bei Urlaubsfahrten ins Ausland oder im Alltag bei Shoppingtouren oder kurzen Spaziergängen noch nachkommen.
Bemerkenswert ist auch, dass der Kläger die bei ihm klar diagnostizierte psychische Erkrankung bei der Bildung seiner Gesamt-GdB-Berechnungen durchaus mit einbezieht und dem Grunde nach nicht bestreitet, sondern lediglich ohne nähere Kritikpunkte hinnehmen kann. Auch ist er im Sinne einer Selbstreflektion durchaus fähig zu erkennen, welche Schwierigkeiten er seiner Ehefrau mit seinen hervorstechenden psychischen Besonderheiten tatsächlich bereitet. Dies alles spricht für eine der Zwangskrankheit vergleichbare psychische Störung, die dem Kläger noch Handlungsspielräume belässt. Hierfür hält der Senat einen Einzel-GdB von 50 für angemessen.
b. Die beim Kläger diagnostizierte chronische Zystitis bezieht sich auf das Funktionssystem der Harnorgane und wird vom Senat mit einem Einzel-GdB von 40 seit dem 23. November 1998 bewertet. In den Anhaltspunkten 1996, 2004, 2005 und 2008 sowie in der Versorgungsmedizin-Verordnung wird die Zystitis nicht gesondert erwähnt. Anknüpfungspunkt für die Bewertung dieser Erkrankung sind daher Schäden der Harnwege, da nach Teil B, Nr. 1b bei Gesundheitsstörungen, die nicht in der Tabelle aufgeführt sind, der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen ist.
Hiernach gilt für die chronische Harnwegsentzündung folgender Bewertungsrahmen:
leichten Grades (ohne wesentliche Miktionsstörungen) ... 0 - 10
stärkeren Grades (mit erheblichen und häufigen Miktions-
störungen) ... 20 - 40
chronische Harnblasenentzündung mit Schrumpfblase
(Fassungsvermögen unter 100 ml, Blasentenesmen) ... 50 - 70
Bei Entleerungsstörungen der Blase (auch durch Harnröhrenverengung) ergeben sich folgende GdB-Wertungen:
leichten Grades
(z. B. geringe Restharnbildung, längeres Nachträufeln) ... 10
stärkeren Grades
(z. B. Notwendigkeit manueller Entleerung, Anwendung eines
Blasenschrittmachers, erhebliche Restharnbildung,
schmerzhaftes Harnlassen) ... 20 - 40
mit Notwendigkeit regelmäßigen Katheterisierens, eines
Dauerkatheters, eines suprapubischen Blasenfistelkatheters
oder Notwendigkeit eines Urinals, ohne wesentliche Begleit-
erscheinungen ...50
Geht man von diesen Bewertungsrahmen aus, greift die Annahme des Sachverständigen von Prof. Dr. R. und Dr. M., für die Zystitis des Klägers einen Einzel-GdB von 60 zu vergeben, deutlich zu hoch. Der häufige und auch für den Kläger schmerzhafte Harndrang erreicht nicht den Behinderungsgrad einer chronischen Harnblasenentzündung mit Schrumpfblase unter 100 ml bzw. die Situation eines Behinderten, der wegen einer Entleerungsstörung mittels Dauerkatheter versorgt werden muss. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass das Leidensbild des Klägers offenkundig psychisch überlagert ist und die tatsächlichen, objektivierbaren Auswirkungen geringer sind, als vom Kläger vorgetragen. Dies räumt auch der Sachverständige Dr. M. ein, der die Bewertung der psychischen Erkrankung und der Zystitis als schwierig ansieht. Der Senat hält die Annahme von Dr. M., für die Zystitis einen Einzel-GdB zu vergeben, der bereits deutlich über der Schwerbehinderung liegt, für nicht vertretbar, da hierbei die psychische Überlagerung in der Symptomatik nicht hinreichend beachtet wird. Dies bestätigt bereits der Arztbrief von Prof. Dr. H. vom 6. Dezember 1999 (Klinik und Poliklinik für Urologie, M.) über eine ambulante Behandlung seit dem 8. Juni 1999. Danach hat der Kläger bereits im Jahr 1999 über Beschwerden im Darm- bzw. Prostatabereich sowie über häufigen Harndrang, Nykturie und Libidostörungen berichtet und der behandelnde Arzt dabei eine klare psychische Überlagerung festgestellt. Diese psychische Überlagerung beim Beschwerdebild der Zystitis wird auch von Dr. M. eingeräumt, dann jedoch nicht klar dem Funktionssystem Psyche und Gehirn zugeordnet. So berichtete der Sachverständige Dr. M. anlässlich der zweitägigen Untersuchung über kein besonders ausgeprägtes Toilettenverhalten des Klägers. Dies hat sich auch während der über eine Stunde andauernden mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Der Kläger benötigte in der mündlichen Verhandlung trotz erkennbarer innerer Anspannung keine Unterbrechung und gab nicht zu verstehen, unbedingt die Toilette aufsuchen zu müssen. Die Behauptung des Klägers, er müsse in 24 Stunden ca. 12 Mal die Toilette oder nach seiner späteren Bewertung ggf. noch viel häufiger aufsuchen, unterliegt daher deutlichen Zweifeln. Wäre der Harndrang tatsächlich noch intensiver, wären weitere Einschränkungen des Klägers in der gutachterlichen Untersuchung oder auch der mündlichen Verhandlung bzw. im Urlaub und im Freizeitverhalten zu erwarten gewesen. Bei einer gravierenden psychischen Störung, die bereits für sich genommen die Schwerbehinderung rechtfertigt, lassen sich die Auswirkungen nicht allein mit somatischen Erkrankungsbildern erklären (so auch Dr. M.). Von daher ist es notwendig, um nicht zu unzulässigen Doppelbewertungen zu Gunsten des Klägers zu gelangen, die somatischen Erkrankungsbilder auf ihren objektivierbaren Kerngehalt zurückzuführen. Dies rechtfertigt es, wegen der psychischen Überlagerung, die chronische Zystitis nur einen Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Der Senat schließt sich insoweit der zutreffenden Einschätzung der Versorgungsärztin Sch. vom 17. Juni 2009 an.
c. Für die Zeit vom 15. November 2000 (Prostata-OP wegen Karzinom) bis zum 14. November 2005 (Ende der Heilungsbewährungszeit) ist wegen des Verlustes der Prostata bei einer Erkrankung in Heilungsbewährung ein Einzel-GdB von 50 zu vergeben. Dies entspricht bereits der zutreffenden Einschätzung des Versorgungsarztes R. vom 6. Januar 2001 und ergibt sich zudem für einen malignen Prostatatumor aus den Anhaltspunkten 1996 (S. 113).
d. Die Sehstörung in Gestalt einer sog. Schielblindheit auf dem rechten Auge bewertet der Senat mit einem Einzel-GdB von 30 (vgl. Teil B Nr. 4, 4.3 der Versorgungsmedizinnischen Grundsätze). Dies entspricht bereits den versorgungsärztlichen Einschätzungen des Beklagten und wird auch vom Sachverständigen Dr. M., trotz geäußerter Zweifel, im Ergebnis aufrechterhalten. Der Senat hat keine Veranlassung von dieser Einschätzung abzuweichen.
e. Das Bluthochdruckleiden des Klägers ohne Augen- oder Organbeteiligung rechtfertigt derzeit als leichte Form einen GdB von 10. Nach Teil B, Nr. 9.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist die leichte Form der Hypertonie, bei der keine oder eine geringe Leistungsbeeinträchtigung und höchstens leichte Augenhintergrundsveränderungen vorliegen, mit einem Grad der Behinderung von 0 bis zu 10 zu bewerten. Die mittelschwere Form eröffnet je nach Leistungsbeeinträchtigung einen Bewertungsrahmen von 20 bis 40. Kriterien dafür sind Organbeteiligungen leichten bis mittleren Grades (Augenhintergrundsveränderungen - Fundus hypertonicus I bis II- und/oder Linkshypertrophie des Herzens und/oder Proteinurie) sowie diastolischer Blutdruck mehrfach über 100 mmHg trotz Behandlung.
Nach der überzeugenden Bewertung von Dr. M., der sich der Senat anschließt, hat sich der Blutdruck des Klägers stabilisiert (140/90 mmHg). Hinweise für eine hypertensive Herzerkrankung vermochte der Sachverständige nicht zu erkennen. Die subjektiv vom Kläger geschilderten Herzrythmusstörungen haben sich im Langzeit-EKG nicht bestätigt. Mangels Organbeteiligung ist daher der Einzel-GdB von 10 für den gesamten streitigen Zeitraum anzunehmen.
f. Für die degenerative Wirbelsäulenerkrankung ohne Bewegungseinschränkungen und ohne neurologische Defizite kann bei dem Kläger nach Teil B Nr. 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze maximal ein GdB von 10 festgestellt werden. Denn ein höherer GdB setzt mittelgradige funktionelle Auswirkungen von Wirbelsäulenschäden in einem Wirbelsäulenabschnitt, z.B. eine anhaltende Bewegungseinschränkung oder eine Instabilität mittleren Grades, voraus. Derartige Einschränkungen ergeben sich weder aus der Aktenlage noch aus der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen Dr. M. Diese Bewertung steht zudem im Einklang mit den orthopädischen Befunden der Klinik W. vom 12. Mai 2006 und den von Dr. H. ermittelten Messwerten vom 25.Juni 2005. Die Osteochondrose sowie die Bandscheibenvorfälle ohne radikuläre Auswirkungen sind daher geringgradig und lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.
g. Im Funktionssystem der männlichen Geschlechtsorgane ist - entgegen der Ansicht des Klägers - nach der überzeugenden Einschätzung beider gerichtlichen Gutachter sowie der beteiligten Versorgungsärzten des Beklagten für die erektile Dysfunktion ein Einzel-GdB von nicht mehr als 20 gerechtfertigt. Die Annahme des Klägers, diese Erkrankung sei dem Verlust des männlichen Geschlechtsorgans gleichzusetzen (Einzel-GdB 50) vermag der Senat nicht zu folgen, da eine solche Einschätzung in unvertretbarer Weise den Bewertungen der Anhaltspunkten bzw. den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen widerspricht. Nach Teil B Nr. 13.2 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizinverordnung ist hier bei der nachgewiesenen erfolglosen Behandlung einer Impotentia coeundi die Feststellung eines GdB von 20 gerechtfertigt. Die Forderung des Klägers hierzu wissenschaftliche Nachforschungen zu betreiben, ist unberechtigt, da die Anhaltspunkte und auch die Fortschreibung der Versorgungsmedizinische Grundsätze den aktuellen Bewertungsrahmen von Sachverständigen für diese Erkrankung wiedergeben. Mögliche psychische Besonderheiten in der Bewältigung dieser Erkrankung sind nach Teil A, Nr. 2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bereits in der Bewertung der GdB-Tabelle mit berücksichtigt. Erst bei außergewöhnlichen seelischen Begleiterscheinungen, die eine spezielle ärztliche Behandlung, wie z.B. Psychotherapie erforderlich machen, kommt eine höhere Bewertung in Betracht.
h. Für das Funktionssystem der Verdauungsorgane ist beim Kläger von einem Reizdarm mit Begleitsymptomatik sowie einer Entzündung des Mastdarms (Proktitis) und Hämorrhoiden sowie einer operativ versorgten Mariske auszugehen. Nach Einschätzung des Sachverständigen Dr. M. ist die Störung der Darmfunktion mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Für diese Bewertung sind Teil B Nr. 10 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze und hierbei insbesondere die chronische Darmstörung (10.2.2) heranzuziehen. Entgegen der Annahme des Klägers wurde eine Colitis Ulcerosa oder ein Morbus Crohn bei ihm nicht sicher diagnostiziert. Zu beachten ist auch, dass die bereits von der Zystitis verursachten Toilettengänge bei der parallel auftretenden Stuhl- und Harndrangsituationen nicht nochmals berücksichtigt werden können und dürfen (so auch Dr. M.). Wegen des normalen Ernährungszustand des Klägers und den von Dr. M. ermittelten Laborwerten kann keine Darmerkrankung mit erheblichen Auswirkungen vorliegen. Ähnlich wie bei der Chronischen Zystitis wirkt auch hier die psychische Überlagerung in dieses Funktionssystem hinein, ohne dass eine Doppelbewertung vorgenommen werden darf.
i. Das Impingementsyndrom der Schulter betrifft das Funktionssystem der oberen Extremitäten und kann wegen der verbliebenen Beweglichkeit über 120 Grad bei der Armhebung mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet werden (vgl. Teil B, Nr. 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze). Der Senat folgt insoweit der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M.
j. Die beim Kläger vorliegende Migräne betrifft auch dieses Funktionssystem "Kopf und Gesicht" und kann, wegen der eher unspezifischen Angaben des Klägers, mit einem Einzel-GdB von 10 nach Teil B Nr. 2.3 bewertet werden (so auch der Sachverständige Dr. M.). Die Notwendigkeit einer neurologischen Abklärung hat keiner der behandelnden Ärzte gesehen, so dass nicht von einem erheblichen Leidensdruck aufgrund dieser Erkrankung ausgegangen werden kann.
k. Bezüglich der Überfunktion der Schilddrüse, die mittels Radiojodtherapie erfolgreich behandelt wurde, der Brandnarbe der rechten Wade, der Laktoseintoleranz, Morbus Meulengracht, dem behaupteten Reizhusten mit Stimmstörung sowie dem Hodenverlust liegen keine Funktionseinschränkungen vor, die gesondert hervorzuheben und mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten wären. Der Einschätzung des Sachverständigen M. ist auch in diesem Punkt zu folgen.
l. Da bei dem Kläger Einzelbehinderungen aus verschiedenen Funktionssystemen mit einem messbaren GdB vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Gesamtbehinderungsgrad zu ermitteln. Dafür sind die Grundsätze nach Teil A, Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze anzuwenden. Nach Nr. 3c ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad bedingt und dann zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Zehnergrad ein oder mehr Zehnergrade hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Für die Zeit vom 15. November 2000 bis 14. November 2005 ergibt sich im Gesamtbild, wie vom Kläger zu Recht eingefordert, ein Gesamt-GdB von 100. Auch wenn die Bildung eines Gesamt-GdB nicht wie im technischen Verständnis des Klägers zu einem GdB über 100 führen kann, ergibt die Kombination der psychischen Störung (Einzel-GdB 50), dem Prostatakarzinom in Heilungsbewährung (Einzel-GdB 50), der Zystitis (Einzel-GdB 40) sowie der Sehstörung (Einzel-GdB 30) ein so umfassenden Erkrankungsbild, dass tatsächlich die höchstmögliche Behinderung von 100 vom Kläger in diesem Zeitrahmen erreicht worden ist. Mit dem Wegfall der Krebserkrankung nach Eintritt der Heilungsbewährung erreicht der Kläger dann wieder einen Gesamt-GdB von 80, wie dies bereits vor seiner Krebserkrankung seit dem 23. November 1998 vorgelegen hatte. Hierbei geht der Senat vom höchsten Einzel-GdB-Wert von 50 (Funktionssystem Psyche) aus. Die weiteren erheblichen Erkrankungen der Zystitis (Einzel-GdB 40) und die Schielblindheit auf dem rechten Auge (Einzel-GdB 30) rechtfertigen eine Erhöhung des Gesamt-GdB um 20 bzw. 10 und führen zu einem Gesamt-GdB von höchstens 80.
Eine weitere Erhöhung aufgrund der weiteren, eher geringfügigen Beeinträchtigungen ist dagegen ausgeschlossen. Die erektile Dysfunktion, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist, genügt hierfür nicht. Denn das Gesamtausmaß der Behinderung wird durch diese - nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A 4, Nr. 3 ee) noch als leichte Funktionseinschränkung zu bewertenden Behinderungen - nicht größer. Die weiteren mit einem GdB von 10 bewerteten Funktionsbehinderungen führen nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB, denn von einem hier nicht vorliegenden Ausnahmefall abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes des Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (Teil A 4, Nr. 3 ee).
m. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G". Übereinstimmend mit den versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten haben dies beide Sachverständige klar verneint. Dieser Ansicht schließt sich der Senat an. Es liegen zunächst keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der LWS vor, die für sich einen GdB von 50 bedingen, vor (dazu Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil D 1, Nr. 1d). Deutliche Einschränkungen des Gehvermögens wegen innerer Leiden haben beide gerichtlichen Sachverständigen beim Kläger verneint. Die schmerzhafte Harndrangintensität weist keine Intervallstärke aus, die eine Bewältigung von ortsüblichen Wegstrecken von vornherein ausschließen würde. Besonders aussagekräftig ist dabei der von Dr. M. vorgenommenen Gehtest. Hiernach war der Kläger in der Lage, ortsübliche Gehstrecken zurücklegen und in zumutbarer Weise zu bewältigen. Die Auswirkungen der Zystitis sind damit beim Kläger gerade im Hinblick auf den Harndrang nicht so schwerwiegend, wie er es immer wieder behauptet. So konnte der Kläger eine stundenlange Untersuchung des Sachverständigen mit nur wenigen Toilettengängen sowie eine längere mündliche Verhandlung durchhalten. Beim speziellen Gehtest bei Dr. M. vermochte er eine Gehleistung ohne wesentliche Einschränkung absolvieren und ist dabei (vgl. Ergometertest) nicht an seine Leistungsgrenze gelangt.
Für eine noch vorhandene ortübliche Gehfähigkeit sprechen auch seine eigenen anamnestischen Angaben vor dem Sachverständigen. Der Kläger kann, wenn auch mit Einschränkungen, seine Ehefrau beim Einkaufen begleiten, Auslandsflugreisen unternehmen und zumindest einmal wöchentlich einen Spaziergang zur E. und wieder zurück bewältigen. Im Gegensatz zum Sachverhalt, der dem Urteil des SG Düsseldorf vom 30. Oktober 2000 (S 31 (38) SB 238/99, zitiert nach juris) zugrunde gelegen hat, leidet der Kläger auch nicht an ganz erheblichen und objektivierbaren Schmerzen in der Unterleibsregion, die sich beim Gehen weiter verstärken und die Bewältigung von ortüblichen Wegstrecken tatsächlich ausschließen können.
3. In dem Antrag des Klägers vom 12. Dezember 2013 auf einen zeitlich vorgelagerten Erörterungstermin und die Rüge zur Fertigung seiner Stellungnahme auf das Schreiben des Sachverständigen Dr. M. vom 29. Januar 2014 zu wenig Zeit eingeräumt bekommen zu haben, liegt kein Verstoß gegen das rechtliche Gehör. Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG hat der Senat das durch Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz garantierte prozessuale Grundrecht des rechtlichen Gehörs gewahrt. Einen Rechtsanspruch des Klägers, vor einer mündlichen Verhandlung seine Ausführungen im Rahmen eines zeitlich vorgeschalteten Erörterungstermins darlegen zu können, sieht das SGG nicht vor. Vielmehr ist der Senat nach Erstellung eines Sachverständigengutachtens und Eintreten der Entscheidungsreife gehalten, zügig einen Entscheidungstermin zu bestimmen, um die zeitliche Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens nicht zu gefährden. Der Kläger hat nach Zustellung des Gutachtens am 6. November 2013 ausreichend Zeit erhalten, sich hiermit auseinanderzusetzen und hat diese Möglichkeit in seinen ausführlichen Schreiben vom 9. Dezember 2013 und 18. Dezember 2013 auch umfassend genutzt. Nach umgehender Zustellung des Schreibens von Dr. M. vom 29. Januar 2014 blieb ebenfalls noch ausreichend Zeit, sich hiermit auseinanderzusetzen, wie dies der Kläger in seinem 33-seitigen Schreiben vom 19. Februar 2014 hinreichend belegt hat. Da der vorliegende Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung als "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (vgl. BSG, Beschluss vom 23. Oktober 2003, B 4 RA 37/03 B, juris) auch keine unerwartete Wendung genommen hat, zu dem sich ein Beteiligter nicht hinreichend vorbereiten konnte, haben die Beteiligten ausreichend Gelegenheit gehabt, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. Die Ausführungen von Dr. M. dienten zudem lediglich der Verteidigung seines eigenen Gutachtens und beinhalteten keine neuen entscheidungserheblichen Gesichtspunkte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Teilerfolg des Klägers.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegen nicht vor.