LSG Baden-Württemberg - L 8 SB 3940/05 AK-A - Beschluss vom 18.11.2005
Mutwillenskosten wegen Rechtsmissbräuchlichkeit setzen voraus, dass die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und die Erhebung oder Fortführung der Klage von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden müsste. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Auffassung des Klägers durch das Ergebnis eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens gestützt - und sei es auch nur vordergründig - wird. Dann kann dem Prozessbeteiligten kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er sich dadurch in seiner Ansicht bestätigt fühlt und das Verfahren fortführt, auch wenn das Gericht zu erkennen gegeben hat, dass es der Klage keine Erfolgsaussicht einräumt.
Gründe
I.
Mit Urteil vom 31.03.2005 hat das Sozialgericht Karlsruhe (SG) die auf
Zuerkennung des Nachteilsausgleichs (Merkzeichen) G gerichtete Klage des Klägers
abgewiesen und dem Kläger zugleich 300,- EUR Missbrauchskosten auferlegt, weil
der Kläger hätte erkennen müssen, dass seinem Klagebegehren im Hinblick auf
die durchgeführten Ermittlungen sowie seinen eigenen Sachvortrag nicht
stattgegeben werden könne. Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 06.05.2005
Berufung eingelegt. Nach einem rechtlichen Hinweis des Senats hat er mit einem
am 22.09.2005 eingegangenen Schreiben die Klage zurückgenommen und gleichzeitig
eine Entscheidung über die Kosten gemäß § 102 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
beantragt.
II.
Durch die am 22.09.2005 erklärte Klagerücknahme hat sich der Rechtsstreit in
der Hauptsache erledigt (§ 102 Satz 2 SGG). Nach Satz 3 dieser Vorschrift ist
auf Antrag diese Wirkung durch Beschluss auszusprechen und, soweit Kosten
entstanden sind, über diese zu entscheiden.
Außergerichtliche Kosten sind nach § 193 SGG nicht zu erstatten, da die Klage
vom SG zu Recht abgewiesen worden ist. Nach dem Ergebnis der vom SG durchgeführten
Beweisaufnahme hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung des
Nachteilsausgleichs G.
Der Kläger ist aber nicht verpflichtet, Missbrauchskosten an die Gerichtskasse
zu zahlen.
Nach der bis zum In-Kraft-Treten des Sechsten Gesetzes zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes (6. SGG-ÄndG) vom 17. August 2001 (BGBl. I S. 2144) von
der herrschenden Meinung vertretenen Rechtsauffassung (vgl. u.a. Peters/Sautter/Wolff
Komm. zum SGG, 68. Lfg 12/98, § 192 Nr. 5 m.w.N.) wurde mit der Klagerücknahme
im Rechtsmittelverfahren das Urteil des SG insgesamt gegenstandslos, also auch
hinsichtlich der Auferlegung von Mutwillenskosten. Einer Entscheidung des
Rechtsmittelgerichts bedurfte es nach altem Recht nicht. Der durch das 6. SGG-ÄndG
eingefügte § 192 Abs. 2 Satz 1 SGG regelt jedoch ausdrücklich, dass die
erstinstanzliche Entscheidung über die Auferlegung von Kosten nach Abs. 1 in
ihrem Bestand nicht durch die Klagerücknahme berührt wird. Gemäß § 192 Abs.
2 Satz 2 SGG kann diese Entscheidung nur durch eine zu begründende
Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden. Da im
Rechtsmittelverfahren das Gericht nicht von Amts wegen tätig wird, ist zur
Aufhebung der Entscheidung über die nach § 192 SGG auferlegten Kosten ein
entsprechender Antrag des Beteiligten erforderlich, der durch die Entscheidung
beschwert ist.
Nach dem ab 02.01.2002 geltenden Recht führt zwar die Klagerücknahme im
Rechtsmittelverfahren wegen der Regelung in § 192 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht mehr
kraft Gesetzes zur Wirkungslosigkeit der Entscheidung über die Auferlegung von
Mutwillenskosten; gemäß Satz 2 des § 192 Abs. 2 SGG kann jedoch das
Rechtsmittelgericht auf Antrag des Beschwerten gemäß § 102 Satz 3 SGG die
Entscheidung über die Auferlegung von Kosten nach § 192 Abs. 1 SGG durch einen
zu begründenden Beschluss aufheben. Der Senat schließt sich damit der
Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin in dessen Beschluss vom
10.06.2004 - L 3 U 15/04 - in vollem Umfang an.
Nach § 192 SGG kann das Gericht im Urteil einem Beteiligten ganz oder teilweise
die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass 1. durch Verschulden
des Beteiligen die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung
eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder 2. der
Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden in einem
Termin die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt
worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des
Rechtsstreits hingewiesen worden ist.
Ein Sachverhalt, der die Verhängung von Verschuldenskosten nach Nr. 1 des §
192 Abs. 1 Satz 1 SGG erlauben würde, liegt nicht vor.
Auch eine Fallgestaltung im Sinne der Nr. 2 dieser Norm ist im konkreten Fall
nicht gegeben, weil dem Kläger der Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit nicht
gemacht werden kann. Die vom SG zur Begründung seiner Entscheidung
herangezogenen Gutachten lassen zwar den Schluss zu, dass die Voraussetzungen für
die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht erfüllt sind. Darin stimmt der Senat
mit dem SG überein. Dieses Ergebnis der Beweisaufnahme ist aber keinesfalls so
eindeutig, dass die Fortführung der Klage als rechtsmissbräuchlich gewertet
werden kann. Eine missbräuchliche Rechtsverfolgung liegt nur vor, wenn die
Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und die Erhebung oder
Fortführung der Klage von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen
werden müsste (st. Rspr. des BVerfG; vgl. z.B. BVerfG 12.09.2000 AnwBl. 2001,
120; 06.11.1995 NJW 1996, 1273, 1274 m.w.N.).
Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein. Der vom SG gehörte Chirurg hat
z.B. angegeben, das Gangbild des Klägers sei langsam, sicher, kurzschrittig,
sehr bedacht und nicht weit ausholend, eher schleichend. Es bestünden zwar
deutliche objektive Zeichen einer Sekundärarthrose am oberen rechten
Sprunggelenk, die die Beschwerden des Klägers erklärten. Der funktionelle
Befund zeige jedoch, dass trotz der röntgenologisch erheblichen Verschleißzeichen
am rechten oberen Sprunggelenk keine Schonhaltung des Beines über längere Zeit
ausgeübt worden sei, da die Muskelumfänge gleich seien. Er schätze, dass der
Kläger innerhalb von 30 Minuten auch mit einem Gehstock eine Gehstrecke von
1500 Metern bewältigen könne. Bei Zugrundelegung dieser Schätzung des
Sachverständigen wäre die Klage sogar nach Auffassung des SG begründet
gewesen. Denn das SG geht - zu Recht - davon aus, dass eine erhebliche Einschränkung
der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, wenn in einer Zeitspanne
von 30 Minuten nur noch Wegstrecken von unter 2000 Metern zurückgelegt werden können.
Zwar gelangt es dann im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu der - auch vom Senat
geteilten - Ansicht, dass dem Kläger noch Wegstrecken von ca. 2000 Metern
innerhalb von 30 Minuten möglich sind. Dem Kläger kann jedoch angesichts der
oben erwähnten Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen keinesfalls
der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Prozessführung gemacht werden. Wird die
Auffassung des Klägers durch das Ergebnis eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens
gestützt - und sei es auch nur vordergründig - kann dem Prozessbeteiligten
kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er sich dadurch in seiner Ansicht bestätigt
fühlt und das Verfahren fortführt, auch wenn das Gericht zu erkennen gegeben
hat, dass es der Klage keine Erfolgsaussicht einräumt.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).