Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (i.F.: GdB) streitig.

Die am .. . .. . 1946 geborene Klägerin beantragte am 21.07.2003 die Feststellung eines GdB wegen Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparates, Fibromyalgie, psychischen Beschwerden und Folgen einer erheblichen Belastung mit multiplen Toxinen. Sie verwies auf diverse Unterlagen in Zusammenhang mit einer Innenraumluftproblematik bei der Grundschule N. sowie allgemeine Veröffentlichungen zum sog. Sick-Building-Syndrom und zur Multiplen Chemikalien-Sensitivität.

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 05.08.2003 ab. Er ging hierbei von einer seelische Beeinträchtigung sowie einer Allergie - beide mit Einzel-GdB von 10 - aus.

Ihren am 27.08.2003 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sie als Folge chemischer Belastung dauernd dienstunfähig sei. Ihr sehr vielfältiges Krankheitsbild sei verbunden mit körperlichen und seelischen Beschwerden. Insbesondere könne sie sich nur noch in Räumen ohne "beschwerdeprovozierende" Stoffe aufhalten und sei daher weitgehend von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausgeschlossen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 10.12.2003 zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage.

Der Beklagte hat am 01.04.2005 die Feststellung eines Gesamt-GdB von 30 ab dem 21.07.2003 angeboten. Die Klägerin hat dieses Angebot als Teilanerkenntnis angenommen, im Übrigen aber an ihrer Klage festgehalten.

Sie stützt sich auf ein in ihrem Auftrag erstattetes Gutachten des Internisten, Nephrologen und Umweltmediziner H. sowie auf eine Stellungnahme des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen und führt aus, ihre Erkrankung äußere sich vergleichbar einer erhöhten Infektanfälligkeit bei Auftreten außergewöhnlicher Infekte, psychischer dauerhafter Leistungsbeeinträchtigung und Muskelschwäche.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05.08.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2003 zu verurteilen, bei ihr einen Gesamt-GdB von wenigstens 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält zuletzt einen Gesamt-GdB von 30 für zutreffend.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Internisten und Arbeitsmediziners P. vom 15.02.2005. P. hat den Gesamt-GdB bei 30 gesehen. Zu der vom Sachverständigen angeregten weiteren Begutachtung durch einen Neurologen und Psychiater kam es nicht, da sich die Klägerin nur in Gegenwart einer von ihr mitgebrachten Protokollantin untersuchen lassen wollte und der gerichtlich bestellte Sachverständige B. sich nach entsprechenden Hinweisen an die Klägerin schließlich nicht zur Erstattung des Gutachtens in der Lage sah.

Die Klägerin ist dem Gutachten von P. unter Berufung auf eine Stellungnahme von H. entgegen getreten, der gerügt hat, P. habe das Vorliegen eines klinischen Befundes für einen mittelgradigen Hirnschadens verkannt. Das Gericht hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme von P. eingeholt, der unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Instituts für medizinische Mikrobiologie der RWTH B. (PD S.) bei seiner bisherigen Auffassung geblieben ist. Die Klägerin ist dem mit einer erneuten Stellungnahme von H. entgegen getreten.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die übrige Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtene Entscheidung des Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 30 hat.

Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX), das mit Wirkung vom 01.07.2001 an die Stelle des aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes getreten ist, stellen die Versorgungsbehörden das Vorliegen einer Behinderung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) und den dadurch bedingten GdB - abgestuft nach Zehnergraden - fest, wenn wenigstens ein GdB von 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Satz 3, 5 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Der Entscheidung nach § 69 SGB IX sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil II SGB IX)", herausgegeben 2004 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Anhaltspunkte, AHP) zugrundezulegen (Bundessozialgericht, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.06.2002 - L 7 SB 193/00 und Urteile vom 12.06.2002 - L 7 SB 39/02 und 65/02). Die Anhaltspunkte geben den aktuellen Wissens- und Erkenntnisstand der herrschenden medizinischen Lehrmeinung wider und sind im Interesse der nach Art. 3 des Grundgesetzes gebotenen gleichmäßigen Behandlung aller Betroffener von Gerichten und Verwaltung wie untergesetzliche Normen anzuwenden (Bundessozialgericht, Urteil vom 23.6.1993 - 9/9a RVs 1/91; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6.3.1995 - BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).

Gemäß Ziffer 19 Abs. 1 und 3 der Anhaltspunkte ist bei der Feststellung des Gesamt-GdB in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Sodann ist im Hinblick auf alle weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, d.h. ob wegen der weiteren Behinderungen dem ersten GdB 10 oder mehr Vomhundertpunkte hinzuzufügen sind, um der Gesamtbehinderung gerecht zu werden. Rechenmethoden sind hierbei nicht heranzuziehen. Grundsätzlich führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, ganz regelmäßig nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die in der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies gilt auch bei Vorliegen mehrerer solcher leichter Behinderungen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 ist der Schluss auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung vielfach nicht gerechtfertigt (Ziffer 19 Abs. 4 der Anhaltspunkte). Maßgeblich für die Bemessung des Gesamt-GdB ist daher, ob ob einzelne Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig sind (und damit verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen) oder ob sie sich sogar nachteilig aufeinander auswirken, Ziffer 19 Abs. 3 der Anhaltspunkte.

Ein Gesamt-GdB von 50 (und somit die Schwerbehinderteneigenschaft, § 2 Abs. 2 SGB IX) kann nach Ziffer 19 Abs. 2 der Anhaltspunkte nur angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkungen der verschiedenen Behinderungen so erheblich sind wie die Auswirkungen eines Leidens, für das in Ziffer 26 der Anhaltspunkte bereits ein Einzel-GdB von 50 vorgesehen ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem Verlust einer Hand, dem Verlust eines Beines im Unterschenkel, einer vollständigen Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, bei Herz-Kreislauf-Schäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung oder bei Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung.

Die Klägerin leidet unter folgenden Erkrankungen, die einen Einzel-GdB von wenigstens 10 verursachen:
1. Somatoforme Schmerzstörung,
2. Leichte Funktionsstörung der Wirbelsäule.

Hiervon bedingt die somatoforme Schmerzstörung als stärker behindernde Störung i.S.d. Ziffer 26.3. AHP einen Einzel-GdB von 30, die Wirbelsäulenerkrankung ist mit geringen funktionellen Auswirkungen verbunden und bedingt nach Ziffer 26.18 AHP einen Einzel-GdB von 10.

Das Gericht entnimmt dies dem Gutachten von P., das in sich schlüssig ist und eine umfassende Würdigung der von Klägerin vorgebrachten Beschwerden erkennen lässt. Hinweise, dass Befunde nicht oder nicht zutreffend erhoben oder gewürdigt worden sind, liegen nicht vor.

Die von P. diagnostizierte und bewertete somatoforme Schmerzstörung umfasst auch die Beschwerden, die die Klägerin unter den Begriff der sog. Multiplen Chemikalien-Sensitivität (MCS) fasst. Für die schwerbehindertenrechtliche Würdigung dieser Erkrankung ist, jedenfalls wenn es an einem organischen Korrelat zu den geklagten Beschwerden fehlt, Ziffer 26.3. AHP - Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen - einschlägig, die auch für somatoforme Störungen gelten (LSG Bayern, Urteil vom 06.11.2003, L 18 SB 113/00; BSG, Urteil vom 27.02.2002, B 9 SB 6/01 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.04.2001, L 6 SB 53/00).

Nachweisbare organische Ursachen für die angegebenen Beschwerden und Einschränkungen liegen nicht vor; insbesondere lässt sich eine Immunabwehrschwäche nicht objektivieren, wie das Gericht der Stellungnahme des Instituts für medizinische Mikrobiologie der RWTH B. entnimmt. Soweit Prof. H. gegenteiliger Ansicht ist, hat er jedenfalls keine Befunde mitgeteilt, die den von ihm gestellten - überaus gravierenden - Diagnosen entsprechen.

Auch für das Vorliegen des im Privatgutachten von H. festgestellten mittelgradigen Hirnschadens fehlt es an objektiven Befunden. P. verweist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf, dass eine solche Diagnose nicht allein auf anamnestische Angaben der Klägerin gestützt werden kann.

Weiteren Beweis hierzu - wie auch zum Ausmaß der somatoformen Schmerzstörung - hat das Gericht indes nicht erheben können, da sich die Klägerin einer neurologisch-psychiatrischen Untersuchung verweigert hat.

Die Klägerin unterliegt im sozialgerichtlichen Verfahren bestimmten Obliegenheiten zur Mitwirkung (Mitwirkungslasten) und hat sich in diesem Rahmen auf Anordnung des Gerichts ärztlich untersuchen zu lassen, soweit dies nicht unzumutbar ist (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., 2005, § 103, Rn 14 a m.w.N.). Verweigert sie grundlos die Begutachtung, so braucht das Gericht im Regelfall keine weiteren Ermittlungen mehr anzustellen (BSG, SozR 1500 § 103 Nr. 27) und darf insbesondere hieraus nachteilige Schlüsse ziehen (Leitherer, a.a.O., Rz 17 ff. m.w.N.). In solchen Fällen kommt regelmäßig eine Entscheidung nach objektiver Beweislast in Betracht.

Die Klägerin hat gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen B. auch auf dessen Vorhalt hin erklärt, sie werde die Begutachtung nur in Gegenwart einer von ihr mitgebrachten Protokollantin dulden. Dem Gericht erscheint es als nachvollziehbar, dass eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung und Anamnese sinnvoll nur ohne die Gegenwart von Begleitern der Probanden durchgeführt werden kann. Insbesondere hat B. nachvollziehbar dargelegt, dass die Anwesenheit gerade von Vertrauenspersonen der Probanden grundsätzlich geeignet ist, das Untersuchungsergebnis zu verfälschen. Der Verweis der Klägerin auf § 73 Abs. 1 Satz 1 SGG geht fehl, denn bei der Tätigkeit der Protokollantin handelt es sich nicht um Prozessvertretung. Ein gerichtlicher Hinweis an die Klägerin, verbunden mit der Anberaumung eines weiteren Begutachtungstermins, schien entbehrlich, da die Klägerin auch gegenüber dem Gericht mit einiger Vehemenz zum Ausdruck gebracht hat, die Anwesenheit der Protokollantin sei "ihr gutes Recht".

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass während des Klageverfahrens ein GdB von 30 festgestellt worden ist.