Tatbestand

Streitig ist der Grad der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - SGB IX -.

Bei der im Jahre 1949 geborenen Klägerin war mit Bescheid vom 12.12.2000 nach Brustteilentfernung links bei Gewebeveränderung ein GdB von 50 festgestellt worden. Im Dezember 2005 leitete die Beklagte eine Nachprüfung von Amts wegen ein. Es wurden eingeholt bzw. beigezogen: Behandlungs- und Befundberichte der praktischen Ärztin H., des Dr. R. und des Orthopäden Dr. W., Bericht der Klinik für Strahlentherapie und radiologischer Onkologie des Universitätsklinikums D. von Januar 2005, Entlassungsbericht der Klinik für Unfallchirurgie des E.-Krankenhauses O. von Oktober 2005, vorläufiger Arztbericht der Klinik S. von August 2005. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Beraters der Beklagten und nach Anhörung der Klägerin wurde mit Bescheid vom 23.06.2006 ein GdB von nur noch 30 festgestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, bei der Beeinträchtigung "Brustteilentfernung links nach Gewebeveränderung nach Eintritt der Heilungsbewährung" sei die Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen, so dass der GdB nun unter Berücksichtigung der tatsächlich vorliegenden Behinderung bewertet werden müsse. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2006, auf welchen vollinhaltlich verwiesen wird, zurückgewiesen.

Mit der hiergegen am 08.12.2006 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Aufhebung der angefochtenen Bescheide, mithin Fortgeltung des ursprünglichen GdB von 50. Zur Begründung wird geltend gemacht, die Einzel-GdB s für die Gesundheitsstörungen Depression, erheblicher Kniegelenksverschleiß, degenerative Wirbelsäulenveränderungen und Brustteilentfernung seien höher (mit 50, 30, 30 und 50) anzusetzen.

Dem schriftsätzlichen Vorbringen der Klägerin ist der Antrag zu entnehmen,

den Bescheid vom 23.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat den ausführlichen Entlassungsbericht der Klinik S. von August 2005 beigezogen. Ferner ist Beweis erhoben worden durch Einholung von Sachverständigengutachten, welche aufgrund ambulanter Untersuchung die Frauenärztin Dr. H. (unter dem 03.11.2007), der Orthopäde Dr. V. (unter dem 02.05.2007) und die Psychiaterin Dr. L. (unter dem 20.08.2007 nebst ergänzender Stellungnahme vom 25.02.2008 zu klägerischen Einwendungen und zu einem nachgereichten ärztlichen Attest der praktischen Ärztin H. vom 26.01.2008) erstellt haben. Auf sämtliche zuvor genannten ärztlichen Gutachten, Stellungnahmen, Atteste und Berichte wird vollinhaltlich verwiesen. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Das Gericht kann gemäß § 105 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Auch sind die Beteiligten zuvor gehört worden.

Die zulässige Klage ist nur insoweit begründet, als dass statt eines GdB von 30 ein solcher von 40 festzustellen ist. Nur insoweit ist die Klägerin beschwert im Sinne des § 54 Absatz 2 SGG.

Gemäß § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X - ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Wesentlich ist eine Änderung immer dann, wenn sich der Gesundheitszustand so geändert hat, dass der Gesamt-GdB um mindestens 10 anzuheben oder zu senken ist, oder die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche nunmehr eingetreten oder entfallen sind. Ändert sich der Gesamt-GdB zur vorangegangenen Feststellung nach dem SchwbG, so ist zu vermuten, dass eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bleibt er dagegen zur vorherigen Feststellung gleich, so wird vermutet, dass keine wesentliche Änderung eingetreten ist (BSG, Urteil vom 10.02.1993, Aktenzeichen 9/9a Rvs 5/91).

In Anwendung dieser Vorschrift hat die Beklagte festgestellt, dass der GdB bei der Klägerin nur noch 30 beträgt. Diese Feststellung ist für die Klägerin insoweit belastend, als bei ihr tatsächlich ein GdB von 40 vorliegt.

Gemäß § 30 Absatz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der nach § 69 SGB IX im Schwerbehindertenrecht entsprechende Anwendung findet, ist der GdB nach den körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Die Auswirkungen dieser (Funktions-)Beeinträchtigung sind als GdB, nach Zehnergraden abgestuft, von 20 bis 100 festzustellen. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so ist nach § 69 Absatz 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Zur Bestimmung der Einzel-GdB ist auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" - Anhaltspunkte - (herausgegeben als Verwaltungsvorschrift vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 2008), zurückzugreifen; denn obwohl diese als Verwaltungsvorschrift für die Sozialgerichte nicht rechtsverbindlich sind, ist ihnen aus Gründen der Gleichbehandlung aller Behinderten und in Ermangelung anderer Vorschriften zu folgen.

Bei der Klägerin liegen folgende Gesundheitsstörungen vor, aus denen sich ein GdB ergibt:

1. Verschleißkrankheit beider Kniegelenke, GdB 30
2. Rezidivierende depressive Störung, Dysthymie, GdB 20
3. Brustteilentfernung links nach Ablauf der Heilungsbewährung, GdB 20
4. Gering ausgeprägte schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule, GdB 10.

Dies ergibt sich aus den vom Gericht eingeholten Gutachten. Diese sind erkennbar nach sorgfältiger Anamnese und Befunderhebung unter Berücksichtigung der Beschwerden der Klägerin und in Kenntnis und Würdigung die vorliegenden ärztlichen Unterlagen erstellt worden. Die Gutachten sind eingehend und überzeugend begründet. Sowohl bei Frau Dr. H. als auch bei Dr. V. und Frau Dr. L. handelt es sich um erfahrene und zuverlässige Mediziner, die seit Jahren Gutachten für die Sozialgerichtsbarkeit erstellen. Sie sind von beiden Beteiligten gänzlich unabhängig. Die in Ansatz gebrachten Einzel-GdB s sind mit entsprechender Begründung zutreffend aus den Anhaltspunkten abgeleitet. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird insoweit auf die ausführlichen Ausführungen in den Gutachten verwiesen. Soweit gegen die Bewertung der psychischen Gesundheitsstörungen klägerischerseits Einwendungen unter Vorlage eines ärztlichen Attests der praktischen Ärztin H. erhoben worden sind, ist hierauf Frau Dr. L. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 25.02.2008 eingegangen. Sie legt im einzelnen dar, dass hinsichtlich der von der Klägerin eingenommenen Medikamente es eher für eine weniger schwere Depression spreche, wenn bereits der Einsatz von 50 mg Doxepin und Tryptophan zu einer guten Besserung führe. Zentral sei die Frage, ob eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bei der Klägerin vorliege. Für diese Einschätzung seien die Einschränkung auf der Funktionsebene ausschlaggebend. Die behandelnde Ärztin H. schildere empathisch die emotionalen Lebensumstände der Klägerin, die vielfältigen belastenden Ereignisse in den letzten Jahren und in der Kindheit. Es bleibe aber die Frage offen, warum nur stützende Gespräche geführt und keine weiterführende, intensivere Psychotherapie durchgeführt werde und keine fachärztliche psychiatrische Behandlung. In ihren Angaben zur Lebensgestaltung bei der Untersuchung habe die Klägerin eindrucksvoll geschildert, sie sei ein aktiver Mensch, sie gehe vielen Freizeitinteressen nach, habe einen aktiven Freundeskreis. An ihren Hobbys habe sie Freude. Die Klägerin habe angegeben, dies sei der überwiegende Zustand, allerdings komme es phasenweise immer wieder zu depressiven Einbrüchen. Dieser wiederkehrenden depressiven Verschlechterung werde durch den GdB von 20 Rechnung getragen. Die Klägerin habe bei der Begutachtung angegeben, die aktuelle depressive Episode bestehe seit 3 Wochen. Als Behinderung könne eine Depression aber nur angesehen werden, wenn sie länger als 6 Monate bestehe. Aus diesem Grunde könne bei der Einschätzung des GdB nicht die aktuell festgestellte depressive Verfassung angenommen werden, sondern nur die zeitlich überdauernde Behinderung. Wie im Gutachten diskutiert, finde sich als anhaltende Behinderung eine Dysthymie. Die einzelnen depressiven Episoden seien hinsichtlich des rezidivierenden Charakters zu würdigen, wobei aber der Schweregrad der einzelnen depressiven Episoden unterschiedlich sei und somit eine Art Durchschnitt gebildet werden müsse. Würde es der Klägerin anhaltend so schlecht gehen wie zum Zeitpunkt der Untersuchung wäre ein GdB von 30 anzunehmen. Allerdings habe die Klägerin angegeben, es gehe ihr durchaus nicht immer und auch nicht jedes mal so schlecht. Bei der Begutachtung durch Frau Dr. H. im November 2007 habe die Klägerin angegeben, ihre Stimmung habe sich bereits wieder gebessert. Wenn es ihr schlecht gehe, schaffe sie es in der Regel, dies zu verbergen, Freunde und auch ihre Tochter würden ihr die Depressionen nicht anmerken. Auch dies spreche gegen eine schwergradige Depression. Menschen mit schweren Depressionen könnten diese in der Regel nicht verstecken. Frau Dr. H. habe zum psychischen Befund bei ihrer Untersuchung unter anderem angegeben, die Klägerin hätte nur zu Beginn der Untersuchung bedrückt gewirkt, später sei sie lockerer geworden und habe sehr witzig kleine Episoden aus ihrem Leben erzählt. Ansonsten sei der psychische Befund regelrecht gewesen. Erfreulicherweise habe sich also ihre Prognose, es handele sich um eine vorübergehende Verschlechterung der Depression im Sinne eines Krankheitsbildes und nicht einer Behinderung, als richtig erwiesen.

Die Krebsängste seien vor dem Hintergrund der Brustkrebserkrankung 2000 zu sehen. Die Angst vor einem Wiederauftreten des Tumors sei menschlich verständlich, aber nicht so stark ausgeprägt, dass dies als eigenständige neurotische Erkrankung angesehen werden könne. Die Krebsängste seien, wie im Gutachten ausgeführt, zwar neurotisch übersteigert. Eine eigenständige psychische Erkrankung resultiere daraus aber nicht. Krebsängste wie bei der Klägerin würden von den Anhaltspunkten bei der Angabe des gynäkologischen GdB berücksichtigt. Frau Dr. H. habe die vorliegenden Ängste diskutiert und ausgeführt, dass die Ängste bei der Bildung eines GdB von 20 für die Entfernung der Brust nach Mamma-Ca mit eingeflossen seien. Vor diesem Hintergrund könnten die Krebsängste nicht zusätzlich auch beim Einzel-GdB durch das psychische Leiden berücksichtigt werden.

Diese Ausführungen überzeugen. Sie entsprechen auch den Anhaltspunkten.

Unter Berücksichtigung von Behinderungen mit Einzel-GdB s von 30, 20, 20 und 10 ist der Gesamt-GdB mit Frau Dr. H. auf 40 einzuschätzen. Nach Nr. 19 der Anhaltspunkte dürfen, wenn wie hier mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, hier also der Verschleißkrankheit der Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 30 und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Dabei führen von Ausnahmefällen abgesehen, welche hier nicht gegeben sind, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zur einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Der höchste GdB von 30 für die Verschleißkrankheit beider Kniegelenke erhöht sich vorliegend im Hinblick auf den Einzel-GdB von 20 für die Brustteilentfernung links um 10 Punkte, so dass ein Gesamt-GdB von 40 resultiert. Eine weitere Erhöhung wegen der psychischen Gesundheitsstörung findet nicht statt, weil es sich nach den überzeugenden Ausführungen von Frau Dr. L. hierbei nur um einen schwachen 20er Wert handelt, auf welchen Punkt 19 Absatz 4 der Anhaltspunkte Anwendung findet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.