Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Versorgungsleistungen.

Der Kläger stand bis zum .. . .. . 1992 als Soldat in Diensten der beklagten Bundesrepublik Deutschland. Gegen Ende des Jahres 1987 erkrankte der Kläger an einem Magenkarzinom. Mit Hinweis darauf, dass er in der Ausübung seines Dienstes unter besonderem Zeitdruck gelitten habe und Mahlzeiten nur unregelmäßig habe einnehmen können, stellte er im Mai 1988 bei der Beklagten einen Antrag auf Bewilligung von Versorgung wegen Erleidens einer Wehrdienstbeschädigung.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 15.06.1989 ab.

Im Juni 2001 stellte der Kläger einen neuen Leistungsantrag verbunden mit dem Antrag, die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 15.06.1989 zu überprüfen. Er begründete den Antrag damit, dass er in Ausübung seines Wehrdienstes dem Einfluss von Radarstrahlen ausgesetzt gewesen sei. Soeben veröffentlichte Presseberichte machten es wahrscheinlich, dass er seinerzeit aufgrund dieses Strahleneinflusses sein Magenkrebsleiden entwickelt habe.

Im Verlaufe des neuerlichen Antragsverfahrens erkrankte der Kläger an einem Prostatakarzinomleiden.

Durch Bescheid vom 30.03.2004 nahm die Beklagte ihre Ablehnungsentscheidung vom 15.06.1989 zurück und erkannte den Verlust von Magen und Milz des Klägers und den Verlust der Prostata als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung an. Die Bewilligung von Versorgungsleistungen lehnte die Beklagte ab unter Hinweis darauf, dass ausgehend vom Datum des Überprüfungsantrages nur längstens für vier Jahre rückwirkend Leistungen in Betracht kommen könnten. In diesem Zeitraum indes sei der Kläger aus ihrem Dienst bereits ausgeschieden gewesen.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, welchen er damit begründete, dass er unverschuldet an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen sei. Versorgung sei damit auch für die Zeit seiner aktiven Wehrdienst-Tätigkeit zu leisten. Mit Bescheid vom 14.09.2005 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Beklagte begründete ihre Entscheidung damit, dass die Vier-Jahres-Frist hier eine gesetzliche Ausschlussfrist darstelle, an welche sie gebunden sei.

Hiergegen ist am 14.10.2005 Klage erhoben worden.

Der Kläger trägt vor, die Anwendung der Vier-Jahres-Frist würde eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung bedeuten. Er würde wesentlich schlechter gestellt als diejenigen Soldaten, welche unmittelbar nach der Diagnose ihrer Krebserkrankung zunächst keine Ansprüche geltend gemacht hätten. Diese Soldaten erhielten im Gegensatz zu ihm nun rückwirkende Versorgung. Der Argumentation der Beklagten stehe auch das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches entgegen.

Der Kläger hat schriftsätzlich wörtlich beantragt,

den Bescheid vom 30.03.2004 insoweit aufzuheben, als ihm die Gewährung von Versorgungsbezügen für den Zeitraum seiner aktiven Dienstzeit zwischen dem 01. Februar 1988 und dem 30. September 1992 verweigert wird, und die Beklagte zu verpflichten, ihn insoweit antragsgemäß zu bescheiden.

Dem schriftsätzlichen Vorbringen der Beklagten ist zu entnehmen, dass sie sinngemäß beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält ihre Entscheidung für rechtmäßig und trägt ergänzend vor, eine Umgehung der Ausschlussfrist sei nicht möglich. Vielmehr sei in Erwägung zu ziehen, in Versorgungsfällen bei erstmaliger Anerkennung bezogen auf weit zurückliegende Zeiträume generell einen Vier-Jahres-Zeitraum anzuwenden.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten, der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der ebenfalls beigezogenen Verwaltungsakten der Versorgungsverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Kammer hat dabei gemäß § 123 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entschieden, ohne an die Fassung des schriftsätzlich von ihm gestellten Antrages gebunden zu sein.

Der teilweise angefochtene Bescheid der Beklagten vom 30.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2005 ist teilweise rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Bewilligung von Versorgungsleistungen für den Zeitraum 01.02.1988 bis 30.09.1992. Sein Antrag aus dem Jahre 2001 wirkt auf diesen Zeitraum zurück.

Gemäß § 85 Abs. 1 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) erhalten Soldaten wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung während ihrer Dienstzeit einen Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage nach § 30 Abs. 1 und § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Die Beschädigtenversorgung beginnt nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Nach Satz 2 der Vorschrift ist die Versorgung auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Antragsteller ohne sein Verschulden an der Antragstellung gehindert, so verlängert sich nach Maßgabe von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung. Die letztgenannte Vorschrift findet hier Anwendung, wobei sie lex specialis zu dem Verjährungstatbestand des § 45 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) ist. Der Kläger war bis zum Beginn des Jahres 2001, als er durch Medienberichte auf die möglichen Folgen von Strahleneinwirkungen auf den Gesundheitszustand aktueller und ehemaliger Bundeswehrsoldaten aufmerksam gemacht wurde, an einer Antragstellung ohne sein Verschulden gehindert. Der Begriff der unverschuldeten Verhinderung ist bei kausalitätsbestimmten Sachverhalten zur Überzeugung der Kammer immer auch dann erfüllt, wenn ein Antragsteller bis zum Zeitpunkt einer - hier durch Medien erfolgten - Aufklärung über Zusammenhänge zwischen Beschädigung und Beschädigungsursache auch bei Anspannung sämtlicher Geistes- und Gewissenskräfte keinen vernünftigen Grund zu der Annahme einer solchen Kausalität finden könnte. Dies ist hier der Fall. Eine laut- und schmerzlos zudem unsichtbar vonstatten gehende Strahleneinwirkung vermag den Betroffenen von der Natur der Sache her keine greifbare Vorstellung von der ihr immanenten Gefährlichkeit zu verschaffen. Anders als bei der Vielzahl der bei der Ausübung von Wehrdienst vorkommenden Beschädigungen merkt hier der Betroffene die Beschädigung - zumindest einstweilen - nicht. Auch wenn die Exposition sich in der Entwicklung eines Karzinomleidens spürbar realisiert, finden sich regelmäßig immer noch keine greifbaren Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen der Strahleneinwirkung und der Beschädigung. Der Betroffene vermag im Regelfall überhaupt nicht einzuschätzen, in welchem Maße er überhaupt Strahlungen ausgesetzt war, oft nicht einmal, ob er überhaupt unter Strahlenbelastung zu arbeiten hatte. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese regelmäßig anzutreffenden Phänomene sich im Falle des Klägers anders dargestellt haben. Dies gilt um so mehr, als es auch im Falle des Klägers die Fürsorgepflicht der Dienstherrin von Soldaten mit sich bringt, dass diese Soldaten regelmäßig ihrer Dienstherrin ein besonderes Vertrauen entgegen bringen. Die Soldaten dürfen darauf vertrauen, dass die Dienstverhältnisse so ausgestaltet werden, dass Beschädigungsrisiken jedenfalls auf ein absolutes Minimum reduziert werden.

Der Umstand, dass der Kläger bereits im Jahr 1988 einmal einen Versorgungsantrag gestellt hat, steht seinem Anspruch nicht entgegen. Er ist rechtlich irrelevant. Der wiederholte Hinweis der Beklagten auf die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) geht insoweit ins Leere. § 44 SGB X findet hier überhaupt keine Anwendung. Einer Rücknahme des Bescheides vom 15.06.1989 bedurfte es nicht, denn diesem Bescheid lag ein anderer Regelungsgegenstand zugrunde. Eine teilweise Übereinstimmung der Regelungstatbestände besteht allein darin, dass der Kläger hier wie dort auf sein Magenkrebsleiden verwiesen hat bzw. verweist. Der Kläger indes hat im neuen Antragsverfahren erstmals auch das Prostatakarzinomleiden geltend gemacht. Dieses Leiden lag im Jahr 1988 noch gar nicht vor. Es kommt maßgebend hinzu, dass der Kläger seinerzeit eine gänzlich andere Einwirkung des Wehrdienstes zum zu entscheidenden Sachverhalt erhoben hat. Nicht das Erleiden irgendeiner Beschädigung ist Regelungsgegenstand eines Bescheides nach § 85 SVG, sondern immer bestimmt ein konkretes Geschehnis den Sachverhalt, löst ein konkretes Geschehnis Ermittlungen von Amts wegen nach § 20 SGB X aus und führt ein konkretes Geschehnis zu einem ablehnenden Bescheid. Nicht aufzufinden vermag die Kammer darüber hinaus irgendeinen Hinweis im Gesetzestext darauf, dass § 44 Abs. 4 SGB X Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sei, wonach Sozialleistungen längstens ausgehend von der Antragstellung rückwirkend für vier Jahre sollen in Anspruch genommen werden können. Soweit es in höchstrichterlicher Rechtsprechung Andeutungen in dieser Richtung geben mag, wäre die Kammer hieran nach Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht gebunden. Es würde solche Andeutungen auch für im Ergebnis falsch halten. Die Rechtslage stellt sich zur Überzeugung der Kammer vielmehr so dar, dass sich im Versorgungsrecht kein Hinweis darauf findet, Versorgung sei bei später Antragstellung nur vier Jahre rückwirkend zu leisten. Im Gegenteil erachtet es die Kammer durch die Existenz des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, der ohne zeitliche Beschränkung auf vier Jahre bei unverschuldeter Verhinderung eine Rückwirkung des Antrages vorsieht sogar als gesetzgeberisch zum Ausdruck gebracht, dass rückwirkend für längere Zeiträume Versorgung zu bewilligen ist, so denn die sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.

Der Klage war damit stattzugeben, wobei sich die Kostenentscheidung aus § 193 SGG ergibt.