Sozialgericht Stuttgart - S 6 SB 3212/06 - Urteil vom 27.03.2007
Bei Gesamtwürdigung des Leidenszustands eines behinderten Menschen, kann sich ergeben, dass eine Gleichstellung mit den ausdrücklich als außergewöhnlich gehbehindert bezeichneten Personen möglich ist, obwohl wesentliches Leiden "nur" die Amputation eines Unterschenkels ist.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Rahmen der Durchführung des Schwerbehindertenrechts nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), darüber, ob der Kläger in seiner Person die sachlichen Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Merkzeichens "aG" erfüllt.
Der im Jahr 1935 geborene Kläger ist seit Langem anerkannter Schwerbehinderter. Soweit vorliegend maßgeblich, wurde zuletzt mit Bescheid des (früheren) Versorgungsamts S. vom 10. August 2001 der Grad der Behinderung (GdB) für die Zeit ab 29. Januar 2001 mit 80 bewertet unter gleichzeitiger Zuerkennung des Merkzeichens "G". Sachliche Grundlage hierfür waren als Behinderungen: "Schwerhörigkeit beidseits (Teil-GdB 20), koronare Herzkrankheit, koronarer Bypass, Bluthochdruck, Hirndurchblutungsstörungen (Teil-GdB 40), Funktionsbehinderung der Schultergelenke (Teil-GdB 20), Funktionsbehinderung der Hüftgelenke, Knorpelschäden an beiden Kniegelenken (Teil-GdB 20), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Teil-GdB 10), Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörung, Nierenfunktionseinschränkung (Teil-GdB 20), Folgen nach Arbeitsunfall (Teil-GdB 10), arterielle Verschlusskrankheit der Beine (Teil-GdB 30) und Polyneuropathie, wiederkehrende Beingeschwüre (Teil-GdB 30)."
Nach vorangegangenen Zehamputationen erfolgte am 6. April 2005 eine Amputation des linken Unterschenkels. Hierwegen und wegen einer weiteren Verschlimmerung der Schwerhörigkeit stellte der Kläger mit Eingang zum 17. Mai 2005 einen Neufeststellungsantrag mit dem Ziel der Erhöhung des GdB sowie der Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Nach entsprechender verwaltungsinterner Sachaufklärung, u. a. durch Beiziehung weiterer Befundunterlagen, wurde dieser Antrag zunächst mit Bescheid vom 6. Dezember 2005 in vollem Umfange abschlägig beschieden. Im Rahmen des sich anschließenden Widerspruchsverfahrens erfolgte eine nochmalige Würdigung des Heilverfahrens-Abschlussberichts der Waldklinik D. vom 13. Oktober 2005 und nachfolgenden verschiedenen beklagteninternen versorgungsärztlichen Auswertungen setzte in der Folge alsdann das Regierungspräsidium S./Landesversorgungsamt mit dem gleichermaßen angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 24. April 2006 den Gesamt-GdB des Klägers für die Zeit ab 17. Mai 2005 mit nunmehr 90 fest; zugleich erfolgte indessen eine Ablehnung des Merkzeichens "aG", da ausweislich des erwähnten Entlassungsberichts der Kläger auch nach der Amputation mittlerweile wieder in der Lage sei, problemlos Strecken von über 500 m zurücklegen zu können.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 5. Mai 2006 bei dem Sozialgericht Stuttgart eingegangenen Klage. Klagbegründend trägt er im Wesentlichen vor, er könne aufgrund seiner Unterschenkelamputation Wegstrecken von 100 m oder mehr nicht mehr zurücklegen, weshalb die von der Beklagten zugrunde gelegte Annahme falsch sei. Weiter verweist der Kläger auch in ausführlicherer Weise auf die seinem Dafürhalten nach in seinem Sinne ergangene einschlägige Rechtsprechung verschiedener Landessozialgerichte.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung einer sachverständigen ärztlichen Zeugenauskunft bei den behandelnden Hausärztinnen des Klägers Dres. B.-R. und S.-H./Böblingen vom 16. August 2006. Bezüglich der Wegfähigkeit des Klägers gaben diese an, insbesondere wegen der Amputationsfolgen könne der verwitwete und für seine Mobilität vollständig auf das Auto angewiesene Kläger nicht verlässlich eine Gehstrecke von 100 m zurücklegen; vielmehr liege die Wegstrecke, sofern der Kläger die Prothese überhaupt benutzen könne, bei ca. 50 bis 80 m.
Der Kläger stellt sinngemäß den Antrag,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 6. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. April 2006 zu verurteilen, dem Kläger ab 17. Mai 2005 das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt
Klagabweisung.
Sie bezeichnet die Klage als sachlichrechtlich nicht begründet und bezieht sich insbesondere auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von MDir Dr. W. des Ärztlichen Dienstes des Regierungspräsidiums S. /Landesversorgungsamt vom 9. November 2006, worin insbesondere auf die Diskrepanzen hinsichtlich der Darstellung der Wegefähigkeit in dem erwähnten Entlassungsbericht aus der Waldklinik D. einerseits und der hausärztlichen Darstellungen andererseits hingewiesen wird.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird ergänzend verwiesen auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten (Az. 06/37/435 929/4) und denjenigen der gerichtlichen Streitakte. Diese waren auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Urteilsberatung.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht zu dem zuständigen Sozialgericht Stuttgart erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Streitgegenstand der vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist im Kern die Beantwortung der Frage, ob die Beklagte in der erforderlichen Übereinstimmung zu der maßgeblichen Sach- und Rechtslage dem Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" versagen konnte. Erkennbar nicht im Streit ist die Höhe des Gesamt-GdB, nachdem diese zuletzt mit dem erwähnten und der Sache nach teilweise abhelfenden Widerspruchsbescheid vom 24. April 2006 auf nunmehr 90 angehoben wurde, wobei insofern das nunmehr sachlich zuständig gewordene Landratsamt Böblingen/Versorgungsamt Stuttgart noch einen diesbezüglichen Teil-Abhilfebescheid zu erteilen hat. Darüber hinaus erfüllt der Kläger auch zusätzlich die sachlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des streitigen Merkzeichens. Bei diesem Ergebnis stützt sich das Gericht auch auf die während des Klagverfahrens eingeholten zeugenschaftlichen Bekundungen der Hausärztinnen sowie den weiteren Sachvortrag des Klägers. Vor diesem Hintergrund musste sich erweisen, dass die insoweit einschlägig angefochtenen Verwaltungsentscheidungen der Beklagten den Kläger in rechtswidriger Weise in seinen Rechten beeinträchtigen, weshalb in dem tenorierten Sinne zu entscheiden war.
Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Nach Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 bis 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO, BAnz 1998, Beilage Nr. 246b und BAnz 2001, S. 1419) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die - auch aufgrund von Erkrankungen - dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Der Kläger gehört nicht zu der in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich genannten Gruppe von schwerbehinderten Menschen.
Allerdings hat er aufgrund der Gleichstellungsklausel (Satz 3, letzter Teilsatz) Anspruch auf den Nachteilsausgleich "aG" ab 1. Januar 2005. Bei der Prüfung einer Gleichstellung ist maßgeblich auf Satz 1 der o. g. Verwaltungsvorschrift abzustellen. Denn die in Satz 3 der VwV-StVO genannte Gruppe von Schwerbehinderten ist nicht homogen. Vielmehr können einzelne der in der Vorschrift genannten Schwerbehinderten bei einem Zusammentreffen von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler orthopädischer Versorgung nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, BSGE 90, 180; LSG Berlin, Urteil vom 25. März 2004 - L 11 SB 15/02). Es ist deshalb nicht erforderlich, dass der Betroffene - wie etwa ein Querschnittsgelähmter - nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen. Ausreichend ist vielmehr, dass er auch unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung gehen kann (BSG a. a. O.). Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich deshalb weder quantifizieren noch qualifizieren; eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt dazu grundsätzlich nicht. Entscheidend ist, dass die Gehfähigkeit so stark eingeschränkt ist, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BSG a. a. O., unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). - Diese Entscheidung wurde vom Kerngehalt nachfolgend u. a. auch aufgegriffen von dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen mit Urteil vom 14. Dezember 2005 (Az. L 5 SB 173/04) sowie von dem SG Aachen mit Urteil vom 8. September 2003 (Az. S 12 SB 7/03), wobei zuletzt auch das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29. März 2007 (Az. B 9a SB 5/05 R) auf die Notwendigkeit der konkreten Einzelfallprüfung hingewiesen hat.
Unter rechtlichen Gesichtspunkten ist ergänzend auch noch auf Folgendes hinzuweisen: Bei der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV enthaltenen Verweisung auf die entsprechenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, a. a. O., S. 4 d. Umdr. m. w. N.) handelt es sich vom Wortlaut her zwar um eine statische Verweisung. Das ändert aber nichts daran, dass bei der - wie vorliegend erforderlich - Prüfung der sog. "Gleichstellungsklausel" im Wege der teleologischen Norminterpretation auch die rechtlichen Gesichtspunkte herangezogen werden müssen, die seit 1. Juli 2001 in den Vorschriften des SGB IX ihren Niederschlag gefunden haben und an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des vormals geltenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (vgl. Artikel 63, 68 des Gesetzes vom 19. Juni 2001 - BGBl. I S. 1046). Durch diese Gesetzesänderung erfuhr der maßgebliche Behinderten-Begriff eine nicht unbeträchtliche Umbewertung. Fand sich zuvor in § 3 Abs. 1 SchwbG als Definition "Behinderung im Sinne dieses Gesetzes (sc. SchwbG) ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht ... Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich." Dieser vormals gültige Begriff unterscheidet sich nicht unbeträchtlich von der nunmehrigen Definition, wie diese sich in § 2 Abs. 1 SGB IX mit folgendem Wortlaut findet: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit ... von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von der Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist."
Diese Definition unter Hervorhebung des Teilhabegedankens, wie diese vormals nur in sehr allgemeiner Form in § 1 Abs. 1 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) seinen Niederschlag gefunden hat und in der Praxis des Vollzugs des Schwerbehindertenrechts in einer als etwas merkwürdig anmutenden Form vor dem Hintergrund jahrzehntelang gewachsener Verwaltungsstrukturen, wie diese ihrerseits aus dem (Kriegsopfer )Versorgungsrecht hervorgegangen sind, nur wenig Bedeutung hat finden können, bedeutet das nunmehr eine Stärkung des positiv-rechtlich geschützten Anspruchs auf Teilhabe als zwingender gesetzlicher Zielvorgabe bei Rechtsanwendung und -auslegung.
In der Konsequenz bedeutet das auch, dass im Rahmen der Durchführung des ergänzenden Nachteilsausgleichs dem Teilhabeaspekt eine gesteigerte Bedeutung beizumessen ist. Bezogen auf den Fall des Klägers bedeutet das beispielsweise, dass die von dem Landessozialgericht Berlin mit Urteil vom 20. April 2004 (Az. L 13 SB 30/03) geäußerte Ansicht, das Bedürfnis, die Autotür beim Ein- und Aussteigen weit öffnen zu können, nicht zur Feststellung des Merkzeichen "aG" herangeführt werden könne, da bei Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen es sich um einen Umstand handele, der nicht auf der behinderungsbedingt eingeschränkten Fortbewegungsfähigkeit beruhe, sondern alleine auf der Beschaffenheit des Parkraums. Diese Interpretation in Form einer allgemeineren Leitsatzbildung erscheint als zu kurz gegriffen und hat letztlich einen mehr baurechtlichen Hintergrund. Entscheidungserheblich muss vielmehr sein, ob der eindeutig erfasste oder zumindest im Sinne einer Gleichstellung zu berücksichtigende Personenkreis bei Würdigung aller maßgeblichen Faktoren, wozu nicht lediglich die aus medizinischen Gründen sehr eingeschränkte Bewegungsfähigkeit gehören sondern auch eine behindertengerechte möglichst ortsnahe und räumlich ausreichende Positionierung entsprechender Parkmöglichkeiten, die Förderung erfahren kann, damit auch eine weniger eingeschränkte Teilhabemöglichkeit am Gemeinschaftsleben finden kann, wobei z. B. Arztbesuche, Einkäufe und/oder Behördenvorsprachen nur einen Teilaspekt darstellen.
Bezogen auf den Fall des Klägers ist besondere aufgrund der Folgen der Amputation, sein Angewiesensein auf einen Rollstuhl bzw. die Unterschenkelprothese, wenn sich die Verwendung des Rollstuhls als nicht gangbar erweist, in Verbindung mit der Notwendigkeit des Ab- bzw. Anschnallens der Prothese vor und nach der Inbetriebnahme seines Pkws in der Gesamtschau zur Überzeugung des Gerichts hinreichend bewiesen, dass er die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des streitigen Merkzeichens "aG" erfüllt. Soweit hier versorgungsärztlicherseits unter Hinweis auf den zeitlich bereits geraume Zeit zurückliegenden Entlassungsbericht aus der Waldklinik D. ein anderer Standpunkt vertreten wird, so schließt sich das Gericht dieser Darstellung nicht an. Ausweislich der deutlich zeitnäheren Bekundungen der langjährig behandelnden Hausärztinnen des Klägers und auch in Würdigung seiner in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben ist nämlich davon auszugehen, dass sowohl im Bereich des Amputationsstumpfs wie auch - vor dem Hintergrund der schwerwiegenden Diabeteserkrankung nicht überraschend - im Bereich des anderen rechten Beins des Klägers erhebliche und angemessen mit zu berücksichtigende weitere Beschwerden bestehen.
Nach allem war mithin zu entscheiden wie geschehen.
Der Kostenausspruch ergibt sich aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).