"Anhaltspunkte" - Neuigkeiten
 

 


Die kostenlose Onlinezeitschrift. Herausgeber und verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes Karen Schillings, Spessartstr. 15, 41239 Mönchengladbach. Die Zeitschrift erscheint zunächst alle 2 Monate. Ausgabe 6 / 2003 vom 02.11.03.

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Liebe Leser unserer Onlinezeitschrift,

Die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries plant offenbar die Abschaffung der Sozialgerichtsbarkeit. Gegenüber dpa erklärte sie erst kürzlich wieder, die Modernisierung der Justiz stehe erst am Anfang. „Es müsse z.B. über die Zusammenlegung von Sozial- und Verwaltungsgerichten nachgedacht werden“ (NJW-aktuell Heft 44/2003). Über den Sinn oder Unsinn einer derartigen Zusammenlegung soll hier nicht weiter spekuliert werden. Jedenfalls würde eine „Zusammenlegung“ - angesichts der Größe der beiden Gerichtsbarkeiten - einer Eingliederung der Sozialgerichtsbarkeit in die Verwaltungsgerichtsbarkeit gleichkommen. Überlegungen zu einer solchen Eingliederung dürften - angesichts der Haushaltslage von Bund und Ländern – im Wesentlichen vor dem Hintergrund mutmaßlicher Einsparungen erfolgen. Einen Vorgeschmack darauf, wie dieser Einspareffekt aussehen soll, wurde im Rahmen der Diskussion, ob das sogenannte Arbeitslosengeld II (Hartz- Reform) den Sozialgerichten oder den Verwaltungsgerichten zugeschlagen werden soll, dahingehend formuliert, die Sozialgerichte hätten nur deshalb eine höhere Erledigungsquote pro Richter, weil sie die Entscheidungsfindung auf medizinische Sachverständige auslagern würden. Diese Vorgehensweise der Sozialgerichte koste das Land NRW jährlich 50 Millionen Euro. Bei näherem Hinsehen beinhaltet die Argumentation das Versprechen der Verwaltungsgerichte, diesen Betrag zumindest erheblich zu reduzieren, falls das Sozialrecht künftig von den Verwaltungsgerichten bearbeitet würde. Tatsächlich wurde der Gesetzentwurf zum Arbeitslosengeld II daraufhin auch geändert und die Materie fällt zukünftig wohl an die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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Die Entwicklung sollte medizinische Sachverständige, die bisher für die Sozialgerichte tätig waren, hellhörig machen. Tatsächlich holen die Verwaltungsgerichte – auch in gutachtenrelevanten Bereichen wie z:B. dem Beamtenrecht – viel seltener als die Sozialgerichte Gutachten ein. Ob eine Bandscheibenschädigung berufsbedingt ist, entscheidet man vor den Verwaltungsgerichten auch schon mal mit dem eigenen Sachverstand des Gerichts und zur Beantwortung der Frage, ob ein Sozialhilfeempfänger arbeitsfähig ist, brauchen die Verwaltungsgerichte häufig kein medizinisches Gutachten. Der von den Sozialgerichten geschätzte medizinische Sachverstand der Gutachter, könnte also künftig seltener gefragt sein.

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Vor diesem Hintergrund sollten medizinische Sachverständige über die Gründung eines bundesweiten Interessenverbandes nachdenken. Ein solcher Interessenverband könnte die Leistung der medizinischen Sachverständigen für eine schnelle und richtige - und damit gerechte – Entscheidungsfindung in sozialrechtlichen Fällen herausstellen. Darüber hinaus könnte eine Interessenvertretung der immerhin bundesweit ca. 12.000 Ärzte, die in die Sachverständigenverzeichnisse der Gerichte eingetragen sind, längst überfällige Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei sozialmedizinischen Gutachten erarbeiten. Nicht vergessen werden sollte auch, dass ein Arbeitsfeld einer solchen Interessenvertretung eine angemessene und einheitliche Vergütung für medizinische Gutachten sein könnte.

Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem Thema.

 

 

 

Verfahrensrecht

Ein Rentenversicherungsträger muss anlässlich der Gewährung eines Beitragszuschusses zur Krankenversicherung nicht über mögliche Konsequenzen für einen beamtenrechtlichen Beihilfeanspruch aufklären.

 

Die Klägerin hatte Anspruch auf Beihilfe. Der vom beklagten Rentenversicherungsträger der Klägerin gewährte Zuschuss zur Krankenversicherung führte zu einer Einschränkung der Beihilfeleistungen. Die Klägerin vertrat die Auffassung, die Beklagte habe Sie hierüber nicht ausreichend aufgeklärt und verlangte Ersatz im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Das BSG führt hierzu aus:

 

„Eine sich aus dem Sozialrechtsverhältnis ergebende Obhutspflicht der Leistungsträger findet ihre Rechtfertigung ua schon in § 2 Abs 2 Satz 2 SGB I. Der Sozialleistungsträger soll danach eine möglichst weit gehende Verwirklichung der sozialen Rechte sicherstellen. Im Hinblick hierauf trifft den Sozialleistungsträger im Rahmen seiner Zuständigkeit eine Pflicht zur ausreichenden Information und Beratung über die sozialen Rechte nach dem SGB, wenn der Bürger dies beantragt. Die Pflicht zu einer konkreten individuellen (Spontan-)Beratung besteht auch nur im Blick auf die Verwirklichtung der sozialen Rechte des SGB und nur dann, wenn sich dem Sozialleistungsträger eine klar zu Tage liegende Gestaltungsmöglichkeit zu Gunsten des Versicherten aufdrängt. § 2 Abs 2 SGB I enthält somit eine Zielvorgabe und Schutzgrenze (ua) für das Herstellungsrecht . Einerseits sind die Sozialleistungsträger im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeit verpflichtet, alles zu veranlassen, damit die im SGB umschriebenen sozialen Rechte verwirklicht werden. Andererseits ergibt sich bereits aus der Thematik und dem insoweit angesprochenen Kreis der Sozialleistungsträger eine Begrenzung dahingehend, dass im Bereich der Massenverwaltung ein derartiger Träger nicht von Amts wegen für jeden einzelnen Versicherten eine an alle Eventualitäten angepasste individuelle Beratung vornehmen kann, sondern lediglich eine solche, die sich auf Grund von konkreten Fallgestaltungen unschwer ergibt, etwa wenn eine klar zu Tage liegende Dispositionsmöglichkeit besteht, die so zweckmäßig ist, dass jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde. Eine die Grenzen des SGB überschreitende Beratungs- oder Informationspflicht bedarf einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung (vgl § 15 Abs 4 SGB I)“ (BSG Urteil vom 24.7.2003, Az.: B 4 RA 13/03 R).

                                                                                                                                   

Zum Umfang der Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheides.

Bevor ein Gericht über einen Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid entscheidet, müssen die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform angehört werden (§ 105 SGG). Diesem Erfordernis wird das Gericht nicht gerecht, wenn eine lediglich formularmäßige Mitteilung ergeht, dass beabsichtigt ist durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Vielmehr muss die Anhörung zumindest kurze und vor allem fallbezogene Hinweise enthalten, aus denen hervorgeht warum das Gericht durch Gerichtsbescheid entscheiden will und wie es gedenkt zu entscheiden (LSG NRW, Urteil vom 12.06.2003 Az.: L 7 SB 129/01).

Sachverständiger muss den Kläger persönlich untersuchen.

Ein vom Gericht bestellter medizinischer Sachverständiger muss den Kläger mindestens auch (mit-) untersuchen. Zwar können einzelne Untersuchungen anlässlich des Gutachtens delegiert werden, der Sachverständige selbst muss sich aber ein eigenes Bild vom Kläger machen. Der häufig gebrauchte Zusatz: „einverstanden auf Grund eigener Urteilsbildung“ ist nicht ausreichend (BSG Beschluss vom 18.09.2003, Az.: B 9 VU 2/03 B).

 

 

 

Schwerbehinderten-/ Versorgungsrechtt

Absenkung der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage in den neuen Bundesländern verfassungswidrig..

Die Schwerstbeschädigtenzulage und die Beschädigtengrundrente, nicht aber die Ausgleichsrente, sind – nach verfassungskonformer Auslegung – in den neuen Bundesländern ab dem 01.01.1999 ohne Absenkung zu zahlen (BSG Urteil vom 12.06.2003 , Az.: B 9 V 2/02 R).

Für die Höhe des GdB sind Diagnosen nicht von Bedeutung.

Entscheidend für die Feststellung eines GdB sind nicht die getroffenen Diagnosen, sondern allein das Ausmaß der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen. Die Versorgungsverwaltung hat nämlich im Verfügungsteil eines Feststellungsbescheides nicht dergestalt über das "Vorliegen einer Behinderung" zu entscheiden, dass sie einzelne Krankheiten oder Syndrome feststellt und ihrer Entscheidung zugrunde legt. Festzustellen ist nicht, wie ein Antragsteller behindert ist, sondern lediglich dass eine (unbenannte) Behinderung als denknotwendige Voraussetzung für die Feststellung ihres Grades besteht. So ist ein GdB nicht einmal dann falsch gesetzt, wenn sich eine angenommene Krankheit als Fehldiagnose erweist. Der GdB wäre nur dann fehlerhaft, wenn die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung falsch eingeschätzt worden wären. Die fehlerhafte Beurteilung der Krankheit, die der Funktionsbeeinträchtigung zugrunde liegt, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ohne Bedeutung. Unter Behinderung ist nicht der regelwidrige körperliche, geistige oder seelische Zustand, also eine Krankheit zu verstehen, sondern die nachteiligen Folgen dieses Zustandes für das Erwerbsleben und den gesellschaftlichen Bereich. Dementsprechend verpflichtet das Amtsermittlungsprinzip die Gerichte nicht zur Durchführung einer Ausschlussdiagnostik bei der Feststellung des GdB. Für die Sachaufklärung ist hinreichend, wenn das Ausmaß der durch die (unbenannte) Behinderung verursachten Funktionsstörung zuverlässig abgeschätzt werden kann (Bay. LSG, Urteil vom 23.07.2003, Az.: L 18 SB 8/02).

 

Krankenversicherung

Bandscheibenmatratzen sind „allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und müssen von der Krankenkasse nicht bezahlt werden.

Allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind von der Arznei-Heil- und Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen. Ein solcher allgemeiner Gebrauchsgegenstand ist auch eine Bandscheibenmatratze. Dabei ist nicht entscheidend, ob Matratzen einer besonderen Qualität begehrt werden oder ob von der Matratze eine besondere therapeutische Wirksamkeit ausgeht (SG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.03.2003, Az.: S 24 KR 69/02).

Viagra kann in Einzelfällen zu Lasten der Krankenversicherung beschafft werden..

Das „Potenzmittel“ Viagra ist – nach Auffassung des LSG Niedersachsen/Bremen – ein Arzneimittel, dass bei einem an einer erektilen Dysfunktion leidenden Kläger zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig ist. Die Behandlung mit Viagra entspreche dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V und Viagra sei kein sogenanntes Bagatell- Arzneimittel. Soweit die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen dem entgegenstehen, hält das LSG diese für unbeachtlich (LSG Niedersachsen- Bremen, Urteil vom 16.07.2003, Az.: L 4 KR 162/01).

 

 

Pflegeversicherung

Richtlinien zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit sind im Einzelfall nicht verbindlich.

Die Zeitkorridore in den „Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit“ sind lediglich Orientierungswerte bei der Feststellung des zeitlichen Umfangs des Hilfebedarfs. Maßgebend ist die individuelle Pflegesituation. Die Zeitkorridore wirken im gerichtlichen Verfahren als antizipierte Beweiswürdigungsregel, die im Einzelfall widerlegbar ist.

 

Ein Schiedsgutachten in der privaten Pflegeversicherung ist nur dann nicht verbindlich, wenn sich nachweisen lässt, dass ein Gutachten „offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht“ (LSG NRW, Urteil vom 14.07.2003, Az.: L 3 P 37/02)

 

 

Rentenversicherung

Wer 20 Minuten für eine Fußwegstrecke von 500 m braucht ist erwerbsunfähig.

Das Zurücklegen einer Wegstrecke von 500 m ist üblicherweise erforderlich, um eine Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen. Bei Gesunden ist hierzu eine Zeit von ca. 7,5 Minuten erforderlich. Wer mehr als doppelt so lang zur Zurücklegung dieser Wegstrecke benötigt ist daher erwerbsunfähig (Bay. LSG, Urteil vom 09.07.2003, Az.: L 20 RJ 461/02).

 

 

Unfallversicherung

Gesundheitsschäden, die auf mehreren Arbeitsunfällen beruhen, sind getrennt zu beurteilen.

Beruhen Gesundheitsschäden auf mehreren Arbeitsunfällen, so sind diese getrennt zu beurteilen. Die Bildung einer Gesamt- MDE kommt insoweit nicht in Betracht. Bei Vorliegen mehrerer Arbeitsunfälle ist die konkrete Feststellung erforderlich, welche gesundheitlichen Schäden jeder dieser Unfälle im Einzelnen verursacht hat und welchen Grad der MdE die jeweiligen Unfallfolgen – für jeden Unfall getrennt – bedingen. Nur auf dieser Grundlage ist zu beurteilen, ob und in welcher Höhe Anspruch auf Verletztenrente besteht (BSG, Urteil vom 19.08.2003, Az.: B 2 U 50/02 R).

Zur Anerkennung von Lendenwirbelsäulenerkrankungen

Die Umschreibung bandscheibenbedingter Lendenwirbelsäulenerkrankungen als Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur BKV ist zwar auslegungsbedürftig, sie entspricht aber auch gegenwärtig noch dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (BSG, Urteil vom 18.03.2003, Az.: B 2 U 13/02 R).

 

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Wissenschaftliche Beiträge unserer Leser

Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Lebensqualität), ganzheitliche Beurteilung einer Behinderung gemäss SGB IX/2 am Beispiel des CLAU-S Fragebogens.

 

Von Internist Dr. med Klaus. Laros, Düsseldorf / Krumpendorf (A)

 

Gemäss SGB IX/2 sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtig ist. Dies entspricht grundsätzlich der WHO Definition der Behinderung:

 

Sie bezeichnet zunächst den körperlichen Schaden (Impairment) sodann die resultierende funktionelle Einschränkung (Disability) und die soziale Beeinträchtigung (Handicap) mit ihrem persönlichen Folgen wie Einschränkung der Unabhängigkeit ,der Beweglichkeit ,der Freizeitaktivität, der sozialen Integration, der wirtschaftlichen und beruflichen Möglichkeiten, der familiären Folgen wie Pflegebedarf, Störung der sozialen Beziehungen ,wirtschaftliche Belastung, gesellschaftliche Folgen wie Produktivitätsverlust, gestörte soziale Eingliederung usw.

 

Mit dem SGB IX/2 tritt ein Paradigmenwechsel der sozialmedizinischen Begutachtung eines Behinderten ein. Sie bedeutet eine Abkehr von der rein funktionalen Beurteilung und Hinwendung zu einer ganzheitlichen Beurteilung. Sie findet nunmehr den Anschluss an die Behinderungsdefinition der WHO. Die so definierte Behinderung ist äußerst komplex und stellt an den sozialmedizinischen Sachverständigen hohe Anforderungen. Aus der Resultante der Behinderungen in der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft erwächst die Lebensqualität . Sie ist seit 1993 nach internationaler Übereinkunft zu definieren als „gesundheitsbezogene Lebensqualität“.

 

Diese ist (BULLINGER1999) zu bezeichnen als: “Die vom Patienten selbst berichtete Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit in körperlicher, mentaler und sozialer Hinsicht“.

 

Inzwischen sind zahlreiche wissenschaftlich gesicherte psychometrische Instrumente entwickelt worden, die auch dem sozialmedizinischen Gutachter erlauben, mit einfach zu handhabenden Inventaren einen Einblick in die Lebensqualität seiner zu beurteilenden Patienten bei verschiedenen Erkrankungen zu gewinnen Das Ergebnis wird ihm helfen, in Erfüllung der Vorgaben den SGB IX/2 den Grad der Behinderung in ganzheitlicher Sicht einzuschätzen .Das gilt besonders bei Behinderungen, deren Grade einen Ermessensspielraum enthalten.

 

Interessant ist u.a. eine Untersuchung von KILIAN et.al. an 1700 Gesunden und 200 hospitalisierten Patienten mit den Diagnosen : Krebs , Herzinsuffizienz, Diabetes, multiple Sklerose, Gelenkentzündung, Erkrankungen des Atemtraktes und Schizophrenie mit dem WHOQO-BREF. Die psychische Lebensqualität von Krankenhauspatienten nach den Diagnosegruppen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zeigte sich mit Ausnahme der Schizophrenie um 30 bis 40 % eingeschränkt. ( Siehe Abb. 2)

 

Nachfolgend wird bei ambulant behandelten Patienten mit Claudicatio intermittens ein krankheitsspezifischer Fragebogen von DIETZE et al. vorgestellt ,der die Einschätzung der Lebensqualität vor und während medikamentöser Behandlung mit Naftidrofuryl in guter Trennschärfe erlaubt.

 

Es wurden untersucht 100 Patienten mit pAVK Stadium II .In Deutschland leiden etwa 4,5 Millionen Menschen an dieser Erkrankung. Sie ist daher auch von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung.

 

Als krankheitsspezifische Befunde wurden erhoben die schmerzfreie Gehstrecke am Laufbandergometer, die Dopplerindizes. Den objektiven Befunden wurde gegenübergestellt die subjektive Einschätzung der Gehstrecke. Insgesamt enthält der CLAU-S 86 Items in 9 Subgruppen ( Alltag, Schmerz, sonstige Beschwerden, Angst, Niedergeschlagenheit, Müdigkeit, Initiativverlust, Auswirkungen auf das soziale Leben)

 

Ergebnisse:

 

Die Lebensqualität wurde am stärksten beeinträchtigt durch Behinderungen im Ablauf des täglichen Lebens und durch die Schmerzen. Die Subskalen Missmut, Niedergeschlagenheit, Müdigkeit und Initiativverlust zeigten eine gute Trennschärfe innerhalb der Schweregrade der Erkrankung innerhalb des Stadiums II.

 

Die Mehrzahl der Erkrankten waren Raucher oder Exraucher sowie Übergewichtige! Auf der Basis des CLAU-S-Fragebogens wurde nunmehr die NIQOL-Europastudie durchgeführt mit insgesamt 709 Patienten in Deutschland, Frankreich und Belgien. Es wurden aufgenommen Patienten zwischen 4o und 8o Jahren. Die Patienten wiesen eine subjektiv schmerzfreie Gehstrecke von 50-500 m auf und hatten einen Knöchel-Arm-Index unter 0,85. Die Therapie erfolgte entweder mit Dusodril oder Placebo 6 Monate lang. Zu Beginn und nach 6 Monaten beantworteten die Patienten die Dimensionen Alltagsleben, Schmerz, Sozialleben, krankheitsspezifische Ängste und Stimmungslage. Übereinstimmend in den 3 Einzelstudien wiesen die Parameter der Lebensqualität während der Behandlung eine signifikante Verbesserung gegenüber der Ausgangslage auf. Die hohe diskriminante Validität des Tests ist aus der Abb.1 ersichtlich.

 

Inzwischen ist eine komprimierte Fassung des Tests erschienen.(ClAU-S SF9) Er ist als Kopiervorlage zu erhalten im „ Indikationsführer Dusodril“( zu beziehen über MERCK-DARMSTADT Tel.06151-72 61 51 Herrn Christoph Schöneich).

 

 

Zusammenfassung :

 

Es sollte gezeigt werden, dass leicht praktikable valide und reliable psychometrische Tests für den sozialmedizinischen Gutachter eine Hilfe sein können, die Vorgaben des SGB XI/2 für die seinem Urteil anvertrauten Patienten zu nutzen.

 

Eine weitere Entwicklung krankheitsspezifischer Tests im Vergleich zu Gesunden, die in Annäherung eine Quantifizierung der Behinderung in der Teilhabe an der Gesellschaft und der damit verbundenen Lebensqualität erlaubt, bleibt zu erwarten .

 

Anhang:

 

2 Abbildungen

 

Literatur:

 

1) Dietze, Kirchberger, Spengel, van Laak .

“ Die Claudication Skala, ein krankheitsspezifischer Fragebogen zur Erfassung der Lebensqualität

von Patienten mit Claudicatio intermittens: Entwicklung und Validierung“.

Gefässchirurgie /1997)2-11-17, Springer-Verlag.

 

2.) Kilian, Matschinger, Angermeyer:

“ Die subjektive Lebensqualität bei Patienten mit somatischen und psychischen Erkrankungen in staionärer Behandlung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung: Eine Anwendung des WHOQOL-BREF“.

 

3) Koller,Celik,Junge et al.:

“Ein Fragebogenmodul zur Messung von Symptomen bei Knieverletzungen,

Entwicklung und erste Ergebnisse zu Reliabilität und Validität“.

 

4) Faller, Vogel ,Bosch:

 „Lebensqualität und Funktionskapazität bei Rehabilitanden mit chronischen Rückenschmerzen“

 

5) Rose, Fliege, Hildebrandt et al:

“Gesundheitsbezogene Lebensqualität, ein Teil der allgemeinen Lebensqualität“

 

6) Siegrist, Starke, Laubach, Brähler:

“Soziale Lage und gesundheitsbezogene Lebensqualität“

Befragungsergebnisse einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung

 

7) Thomas, Abel, Duetz, Niemann:

“Statistische Zusammenhänge selbst berichteter Gesundheitsindikatoren“.

Eine explorative Analyse von Befragungsdaten bei 55 bis 65 jährigen.

 

Anmerkung: Literaturangaben 2-7 in

8) Bullinger, Siegrist, Ravens-Sieberer:

“Lebensqualitätsforschung aus medizinischer und soziologischer Perspektive“

Jahrbuch der Medizinischen Psychologie 18, Hogrefe. Verlag für Psychologie Göttingen Bern, Toronto .Seattle.

EMail -Anschrift des Verfassers: [email protected]

 

 

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Die Teilnahmefähigkeit am Leben in der Gesellschaft 

 

- Der Grad der Behinderung - 

 

Ein Beitrag zur Systematik

 

von Dr. med. U. Ammermann, Arzt für Orthopädie, Düsseldorf

 

Die oft nicht unerheblichen Bemühungen von Betroffenen, vermutete oder tatsächliche Behinderungen mit (Wunsch)-Bewertungen durchzusetzen, die vorgelegten, nicht selten überbordenden oder pauschalierenden ärztlichen Atteste, der mit Widersprüchen gefüllte Raum angewandter Tabellen zur Feststellung des Behinderungsumfanges, die nicht seltene Beobachtung, dass bezeichnete Behinderungen sich bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft überhaupt nicht auswirken, das sind nur einige Tatsachen, die letztendlich Ausdruck höchst unterschiedlicher Betrachtungen und Einschätzungen der gleichen Zustandsbilder hinsichtlich ihres Behinderungsumfanges im Einzelfall bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft sind.

 

Seit dem 01.07.2001 ist für alle Betroffenen, die sich mit Behinderungsfeststellungen befassen, mit der Neufassung SGBIX die Beurteilungsebene fest umrissen: zu beurteilen ist die Teilnahmefähigkeit am Leben in der Gesellschaft unter dem Einfluß gesundheitlicher Regelwidrigkeiten.

 

In dieser Situation ist der sachverständige Arzt in besonderer Weise gefordert verständliche Klarheit herzustellen. Dabei ist im Streitfalle nicht sein streitbeendendes Schlusswort im Sinne einer Exkatedraentscheidung gefragt, sondern die sachverständige Erklärung der tatsächlichen Verhältnisse und ihrer behindernden Auswirkungen bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft.

 

 Der sachverständige Arzt muss darum einerseits den Gegebenheiten und berechtigten Ansprüchen des Antragstellers/Klägers gerecht werden und darf andererseits die Verpflichtung gegenüber den sozialen Systemen nicht außeracht lassen. Aus den genannten Gründen sowie zur Vergleichbarkeit der Sachverständigenaussage und ihrer Nachvollziehbarkeit ist systematisches Vorgehen unumgänglich, soll ein Behinderungsumfang in überzeugender Weise festgestellt werden.

 

Die sachverständige Aussage ist nicht bereits deshalb zutreffend, weil der befragte Sachverständige im akademischen Raum über ein wie auch immer begründetes Aussagemonopol verfügt, welches allenfalls durch ein anderes Aussagemonopol gebrochen werden kann. Hierauf sei verwiesen, weil gelegentlich von interessierter Seite entsprechende antipodische Kräftefelder eingerichtet werden, um bestimmte Bewertungsansprüche durchzusetzen. Vielmehr ist die sachverständige Aussage zur Behinderung eines Betroffenen die Beantwortung der Frage nach Tatsächlichkeit, die Feststellung von Substanz, welche eine darstellbare und erklärbare Behinderung herbeiführt.

 

Der sachverständige Arzt muss also im ersten Schritt die zur Behinderung führenden medizinischen Tatsachen vollständig substantiieren. Sodann ist zu erklären, wie sich die festgestellten medizinischen Tatsachen - das sind Befunde und Diagnosen - funktionell tatsächlich auswirken. Erst danach ist zu erklären, welcher Bezug sich hieraus für die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ableitet unter Berücksichtigung der umfangreichen Facetten der Teilnahmemöglichkeit. Es ist zweckmäßig anhand zutreffender Beispiele, die mit der funktionellen Auswirkung verbundene Behinderung zu beschreiben und zu erläutern. Alterstypische Vorgänge sind ebenfalls zu bezeichnen, allerdings bei der späteren Feststellung des Behinderungsumfanges insoweit zu berücksichtigen, als sie nicht bewertet werden dürfen.

 

Die sachverständige Festsstellung darf sich weder bewusst noch unbewusst aus dem anderen Personen nicht zugängigen Wissensraum des sachverständigen Arztes herleiten. Der Arzt darf darum aus Gründen seiner Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft eine Beurteilung aus fachlich exterritorialen Gelände heraus nicht abgeben. Er muss über die Tatsachenmitteilung den Zugang zu seinen Überlegungen und Einschätzungen begehbar halten – für alle Verfahrensbeteiligten. Häufig anzutreffende Beurteilungen ohne entsprechende schlüssige Begründung behindern darum die im Feststellungs- und Klageverfahren gewünschte Nachvollziehbarkeit einer Beurteilungsfindung. Sie nähren den Argwohn, dass die Materie von dem befragten Arzt nicht ausreichend durchdrungen wurde und sind letztlich nicht verwertbar.

 

Die Substantiierung der für die Behinderung relevanten Tatsachen kann mit der Bezeichnung einer Diagnose identisch und erschöpft sein. In der Regel sind Diagnosen jedoch nicht geeignet eine Behinderung zu begründen, weil sich unter ihrem Dach Funktionsdefizite verbergen können, die letztlich zu recht unterschiedlichen Behinderungsumfängen führen.

 

Analog zum Vorgehen in der kurativen Medizin – keine Therapie ohne Diagnose – ist bei der Beurteilung eines Behinderungsumfanges darum zu berücksichtigen: keine Bewertung ohne Befund und Darlegung seiner funktionellen Auswirkungen bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft.

 

Der Darlegung des Funktionsdefizites infolge von Befunden kommt die Schlüsselstellung hinsichtlich der Feststellung einer Behinderung zu. Es bedarf also der Darlegung, welcher Befund welche Auswirkung bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft entwickelt. Insbesondere, ob ein Betroffener wegen bestimmter körperlicher, geistiger und/oder seelischer Befunde und der von ihnen ausgehenden Auswirkung tatsächlich an der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft behindert wird.

 

Um das oben Gesagte noch einmal aufzugreifen sei darum noch einmal darauf verwiesen: es ist nicht ausreichend zu behaupten, dass eine Person wegen des einen oder anderen Befundes behindert ist, womöglich mit Verweis auf eine gleichlautende Position in den Anhaltspunkten 1996 oder anderen Tabellenwerken, z.B. Behindertentabelle. Vielmehr ist darzulegen, welche Einschränkungen der Betroffene wegen der ermittelten Befunde hinsichtlich der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft hinzunehmen hat, anders ausgedrückt inwieweit sich ein Betroffener - abweichend vom  Alterstypischen - bezüglich der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft leidensgerecht verhalten muss, welche Zugänge ihm um wie viel zur Teilnahme am Leben in der Gesellschaft verwehrt sind. Die Verdeutlichung dieses Auswirkungsvorgangs und seine Darstellung sind die zentrale Voraussetzung dafür nachfolgend in glaubhafter Weise eine Behinderung anzunehmen, oder eben auch nicht. Dabei ist stets die gesamte Palette der Teilnahmemöglichkeiten zu berücksichtigen. Wer also infolge Leiden die bisher ausgeübte Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, ist möglicherweise behindert, zwangsläufig ist dies jedoch nicht. Denn es muss beurteilt werden, inwieweit ein Betroffener in der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft behindert wird. Die Erwerbstätigkeit stellt nur einen Einzelaspekt dar. Auch wenn diese für die soziale Sicherung eines Betroffenen eine ganz erhebliche Bedeutung hat, kommt ihr für die Beurteilung des Behinderungsumfanges jedoch diese Bedeutung nicht zu. Es ist stets die gesamte Palette der Teilnahmemöglichkeiten am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Das Maß der Behinderung ergibt sich letztlich aus der Betrachtung der Teilnahmebehinderung an allen Teilnahmemöglichkeiten. Eine besondere Bevorzugung hinsichtlich der graduellen Einschätzung bestimmter Teilnahmemöglichkeiten besteht nicht.

 

Es ist durchaus zweckmäßig, abweichend vom medizinischen Sprachgebrauch den Auswirkungsvorgang in deutscher Sprache abzufassen, weil sich so für alle Verfahrensbeteiligten ein verständliches und nachvollziehbares Bild zum Behinderungsumfang eines Betroffenen ergibt.

 

Um es noch einmal zu sagen:

 

Es bedarf also der Darlegung des eigentlichen Behinderungsvorgangs, das ist die Auswirkung des Funktionsdefizits bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft wegen festgestellter Befunde (sozialmedizinische Betrachtung). Erst die so anhand der Befunde ermittelten Funktionsdefizite hinsichtlich der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft und ihre Darlegung ebnen den Weg zu einer zutreffenden graduellen Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse bezüglich einer Behinderung. Die graduelle Einschätzung ist also das natürliche Ergebnis aus der zuvor vorgenommenen sozialmedizinischen Befundbetrachtung hinsichtlich behindernder Auswirkung. Folglich liegt eine Behinderung darum in der Regel nicht schon deswegen vor, weil z.B. in den Anhaltspunkten ein gleicher Befund mit einem bestimmten Grad der Behinderung behaftet ist. Gleiche Befunde haben nämlich oftmals recht unterschiedliche Auswirkungen. Dies ist jedoch im Einzelfall erkennbar aufzuzeigen und zu berücksichtigen.

 

Der Behinderungsumfang – nicht seine zahlenmäßige Bewertung – drückt sich immer und zu aller erst aus in den zuvor dargelegten Funktionsdefiziten, soweit diese bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft tatsächlich wirksam sind. Es ist darum in den einschlägigen Tabellenwerten nach solchen Funktionsdefiziten, nach Möglichkeit gleicher Organabschnitte zu fahnden, die dem individuellen Funktionsdefizit am ehesten entsprechen. Die Tabellenwerke dienen insoweit als Orientierung und Hilfe für die Einschätzung zuvor anhand von Befunden festgestellter und dargelegter Funktionsdefizite. Der Verweis auf die Tabellenwerke muss gleichwohl schlüssig sein. Somit werden Funktionsdefizite – wirksam bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft – vergleichbar.

 

Nicht die Befunde von Körperabschnitten werden mit vermeintlichen oder tatsächlichen Normalbefunden gleicher Abschnitte verglichen und dann mit Hilfe der Tabellenwerke in Zahlen umgesetzt, sondern allein die von den Befunden ausgehende funktionelle Wirksamkeit hinsichtlich der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft. Der festgestellte Befund muss darum die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft nachweislich behindernd beeinflussen, nicht nur möglicherweise, soll ein Grad der Behinderung festgestellt werden.

 

Die Feststellung eines Behinderungsumfanges ist also nichts anderes, als die Darstellung überprüfbarer Tatsachen in überzeugender Weise. Hierfür ist das akribische Vorgehen des befragten Arztes erforderlich, aber auch des von seinem Patienten mit einem Attest beauftragten Arztes zur Durchsetzung eines Behinderungsanspruches. Das Ergebnis dieser detaillierten Vorgehensweise ist auch von Nicht-Ärzten nachvollziehbar und stellt ein sicheres Fundament bei allfälligen Anträgen wegen Behinderung her. Zugleich bleibt die Objektivität der Feststellung erkennbar gesichert.

 

 

Die Gesamtbehinderung

 

Zur Feststellung der Gesamtbehinderung bei mehreren Einzelbehinderungen ist in gleicher Weise vorzugehen, wie bei der Feststellung von Einzelbehinderungen. Auch die Gesamtbehinderung muss tatsächlich sein. Sie ist nicht dadurch tatsächlich, dass sie als solche vom Sachverständigen behauptet wird. Die Tatsächlichkeit ist folglich dem Inhalt nach zu erläutern und erst danach mit Graden einzuschätzen. Hierbei bieten die Anhaltspunkte 1996, die Behindertentabelle und Kommentare Hilfe.

 

Die Gesamtbehinderung ist also primär erkennbar durch die sachverständige inhaltliche Darlegung der funktionellen Auswirkung ermittelter Befunde bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft.

 

Wegen der in der Regel unterschiedlichen Umfänge verschiedener Funktionsdefizite ergibt sich in den meisten Fällen zwangsläufig, dass ein Funktionsdefizit vor einem anderen bestimmend behindert bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft. Es ist also bei mehreren Funktionsdefiziten immer kritisch zu prüfen, inwieweit wegen eines bestimmenden Funktionsdefizites die übrigen Funktionsdefizite überhaupt noch wirksam werden und wenn ja in welchem Umfang.

 

Da das Summieren von Behinderungen somit unzulässig ist, ebenso wie versteckte Summierungen mit Abschlägen als Konzession an gesetzliche Vorgaben, ist dem Gebot der Tatsächlichkeit zwingend zu folgen. Dies gilt natürlich auch für Funktionsdefizite, wenn sie aus verschiedenen Fachbereichen kommen. Eine Fachwertigkeit von Funktionsdefiziten gibt es nicht. Wer also bereits durch ein bestimmendes Funktionsdefizit, zum Beispiel seitens des Bewegungsapparates, in seiner körperlichen Belastbarkeit und Funktionstüchtigkeit behindert ist, wird in der Regel durch belastungsabhängige Atemwegbeschwerden nicht in vollem Umfang zusätzlich behindert, mitunter auch gar nicht. Es bedarf also auch an dieser Stelle der sorgfältigen Abwägung der funktionellen Wertigkeit und funktionellen Wirksamkeit zuvor festgestellter medizinischer Tatsachen hinsichtlich ihrer Einwirkung als Behinderung bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft.

 

Die alleinige Behauptung sichert nicht die Qualität der Einschätzung. Die Betrachtung muss offen gelegt werden. Diese Vorgehensweise hat zur Folge, das oftmals mehrere „kleine Behinderungen“ – funktionell betrachtet – auch eine kleine Gesamtbehinderung bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft herbeiführen, es sei denn, dass durch das Zusammenwirken der kleinen Behinderungen sich tatsächlich eine umfangreichere Behinderung als in den Einzelfeststellungen niedergelegt ergibt. Dies bedarf dann allerdings auch der Darlegung und Erläuterung.

 

Eine Leidenssummierung - wie auch immer geartet - ist nicht zulässig, wenngleich Betroffene sich häufig eine solche Möglichkeit vorstellen und entsprechende Erwartungen mit ihren Anträgen auf Anerkennung verbinden. Lediglich das tatsächliche Zusammenwirken von Funktionsdefiziten ist als Gesamtbehinderung zahlenmäßig einzuschätzen und zu begründen.

 

Da die Behinderungen, auch die Gesamtbehinderung, als Verlust der Teilnahmefähigkeit am Leben in der Gesellschaft definiert ist, ist es auch zulässig, eine Gesamtbehinderung in ihrem Umfang vergleichsweise zu erläutern und mit solchen gleichwertigen Behinderungen in Bezug zu setzen, die ein einprägsames Beispiel sind für die gleichstarke Teilnahmebehinderung. Dieses Vorgehen erleichtert dem Betroffenen den Umgang mit der Einschätzung der für sie geschätzten Gesamtbehinderung oder Einzelbehinderung, sei es im Sinne der Akzeptanz, sei es im Sinne des Widerspruchs.

 

Da die Einschätzung einer Einzelbehinderung oftmals schon Mühe macht und darum besondere Sorgfalt erfordert, gilt dies erst recht für die Einschätzung einer Gesamtbehinderung. Wegen der mitunter nicht unerheblichen Auswirkungen des Einschätzungsergebnisses für den Einzelnen, aber auch mittelbar für die gesellschaftlichen Sicherungssysteme sind die sachverständigen Feststellungen darum auch mit besonderem Verantwortungsbewusstsein zu treffen. Der sachverständige Arzt sollte darin nicht ein lästige Pflicht sehen, sondern sich seiner Vermittlerrolle zwischen Individuum und Gemeinschaft als auch als ärztlicher Sachwalter beider bewusst sein. Denn nur der Arzt kann feststellen, ob von einer festgestellten Diagnose oder einem Befund, eine Einwirkung auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft von wesentlichem Umfang im Sinne einer Behinderung ausgeht. Daraus ergibt sich zwangsläufig, das nur der Arzt unter Einhaltung entsprechender Regeln und Einsatz seines Sachverstandes den Bezug von Funktionsdefiziten zu tabellarischen Vorgaben in Behindertentabellen und Kommentaren glaubhaft herstellen kann.

 

Auf die Tabelle im Anhang sei verwiesen.

 


Die Feststellung des Grades der Behinderung entsprechend SGB IX vom 01.07.2001

 

Tabellarische Kurzfassung


Befunde - Diagnose

È

Darlegung der funktionellen Auswirkung bei der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft (sozialmedizinische Betrachtung)

È

Einschätzung des Behinderungsumfangs (GdB)

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Zuordnung der Funktionsdefizite zu AHP 1996, Behindertentabelle, Beiratsbeschlüssen, Kommentar Schwerbehindertenrecht


Dem vorliegenden Beitrag liegen zugrunde:

 

Die Fassung Sozialgesetzbuch IX vom 01.07.2001

 

Die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996

 

Die Behindertentabelle (www.behindertentabelle.de)

 

Der Kommentar zum Schwerbehindertenrecht, 2. Auflage von Günter Hausmann und Martin Schillings. Sozialmedizinischer Verlag, 41239 Mönchengladbach

 

In den Beitrag sind eingeflossen zusätzlich die Anregungen aus dem Erfahrungsaustausch zwischen Richter am Sozialgericht Düsseldorf Herrn Martin Schillings und sachverständigen Ärzten im Jahre 2002.

 

Anschrift des Autors: Dr. med. Ulrich Ammermann, Arzt für Orthopädie, Hansa-Allee 28, 40547 Düsseldorf

 

 

Rezension

 

S. Bartholomeyczik, D. Hunstein, V. Koch, A. Zegelin – Abt

Zeitrichtlinien zur Begutachtung des Pflegebedarfs (Evaluation der Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung)

Mabuse – Verlag, Reihe Wissenschaft, Band 59, 2001, 283 Seiten, € 26, -

ISBN 3 – 933050 – 86 – 3

 

Inhalt dieses Buches ist ein Forschungsprojekt, das im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) im Zeitraum 1998 – 2000 durchgeführt wurde. Die Begutachtungsrichtlinien der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI (Einstufung der Versicherten in eine Pflegestufe) wurden hierzu überprüft. Die Verfasser (zwei Professorinnen für Pflegewissenschaft und Betriebswirtschaftslehre, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut für Pflegewissenschaft und der Leiter der Abt. Pflegeforschung einer Klinik) haben intensive Datenerhebung betrieben: In 71 Tabellen und 34 Abbildungen werden die Zeitvorgaben der Spitzenverbände der Pflegekassen und die tatsächlichen Zeitwerte, die von nichtprofessionellen Pflegekräften bei der Pflege ermittelt wurden, gegenübergestellt. Ergänzt wird dieses durch Beschreibung der einzelnen Haushalte und der Probleme bei der Zeiterfassung. Nach der Darstellung des Ist – Zustandes wird die Ermittlung von Hilfebedarf und Pflegebedürftigkeit anhand von Pflegetheorien und Methoden der Bedarfserfassung behandelt.

 

Für die praktische Arbeit mag das Werk zu "theorielastig" sein; jedoch finden hier insbesondere Bevollmächtigte eine umfangreiche "Fundgrube" an Daten, da die Autoren Pflegebeziehungen unter jedem nur denkbaren Aspekt beleuchtet haben. Theorie (Zeitvorgaben des medizinischen Dienstes der Krankenkassen) und Praxis (Zeitaufwand der Laienpfleger) werden hier erschöpfend einander gegenübergestellt.

 

RA Marianne Schörnig, Düsseldorf