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Geschichte der Anhaltspunkte und der Versorgungsmedizinischen Grundsätze

 

 

Die Anhaltspunkte basieren auf Begutachtungsrichtlinien für die Kriegsopferversorgung. Bereits 1916 erschienen die ersten "Anhaltspunkte für die militärärztliche Beurteilung der Frage der Dienstbeschädigung oder Kriegsbeschädigung bei den häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen der Heeresangehörigen." Diese wurden durch die "Anhaltspunkte für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920" fortgeschrieben. 1952 wurden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" vom Bundesarbeitsminister herausgegeben, die sich weiterhin zunächst im Wesentlichen mit den Folgen von Kriegsbeschädigungen befassten und in den Jahren 1954, 1958, 1965 und 1973 erweitert wurden. 1974 trat das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft - SchwbG - in Kraft und 1977 erschienen die "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz" als Richtlinie für die Begutachtungen von Behinderungen, aber auch von Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Diese wurden 1983 und 1996, nunmehr unter dem Titel "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) neu aufgelegt.

Die wesentlichen Gründe für die Überarbeitung der AHP hat der (damalige) Bundesarbeitsminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm in seinem Vorwort zu der Auflage 1996 - auch heute noch zutreffend - dargelegt:

Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" haben sich als Grundlage für alle Begutachtungen in dem immer umfangreicher gewordenen sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz Jahrzehnte bewährt. Neue Erkenntnisse und Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen und die Ursachen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte" haben eine generelle Überarbeitung erforderlich gemacht.

Viele haben an der jetzt vorliegenden Neufassung der "Anhaltspunkte" mitgewirkt. So haben die Minister und Senatoren für Soziales der Länder, die Kriegsopfer- und Behindertenverbände und das Bundesministerium der Verteidigung aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Anwendung der "Anhaltspunkte" Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge unterbreitet. Auch ärztliche Fachgesellschaften, einzelne Sachverständige sowie Arbeitsgemeinschaften und Selbsthilfegruppen von Behinderten haben sich beteiligt.

Alle bisherigen Ausführungen in den "Anhaltspunkten" und die Änderungsvorschläge sind in fachbezogenen Arbeitsgruppen mit speziell erfahrenen Ärzten aus den Bereichen der Wissenschaft und Klinik, mit besonders sachkundigen Ärzten der versorgungsärztlichen Dienste der Länder und der Bundeswehr sowie mit Ärzten, die von Behindertenverbänden entsandt worden waren, mit nichtmedizinischen Sachverständigen und mit Medizinern und Juristen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sehr eingehend erörtert worden; insgesamt waren über 160 externe Sachverständige beteiligt. Jeder Änderung von GdB/MdE-Werten sind sorgfältige Prüfungen vorausgegangen, und es ist besonders darauf geachtet worden, dass jeweils die Relation zu anderen Behinderungen gewahrt und damit vergleichbare Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen auch gleich bewertet werden.

Das bewährte Grundkonzept der bisherigen "Anhaltspunkte" ist auf Wunsch der Anwender, aber auch aller an der Erarbeitung Beteiligten beibehalten worden.

Die Änderungsentwürfe der Arbeitsgruppen sind in der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung abschließend beraten und mit den Ministern und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder abgestimmt worden.

Die neuen "Anhaltspunkte" enthalten noch mehr Beurteilungskriterien für den Gutachter, als dies bisher der Fall war; hierbei wurde insbesondere die GdB/MdE-Tabelle erheblich erweitert. Damit ist gewährleistet, dass der ärztliche Sachverständige trotz des größer gewordenen Spektrums an Schädigungsfolgen und Behinderungen weiterhin sachgerechte, einwandfreie und bei gleichen Sachverhalten auch einheitliche Beurteilungen abgeben kann. Die "Anhaltspunkte" tragen somit entscheidend zur Qualitätssicherung in der versorgungsmedizinischen Begutachtung bei. Sie liefern damit der Versorgungsverwaltung die Grundlage, bei jedem einzelnen Versorgungsberechtigten und Behinderten gerechte Verwaltungsentscheidungen zu treffen."

Seit 1996 wurden die AHP nach dem o.a. Konzept vom jeweils zuständigen Ministerium (derzeit Bundesministerium für Arbeit und Soziales - BMAS - , davor u.a. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung - BMGS - und Bundesministerium für Arbeit - BMA -) im Zusammenwirken mit den Mitgliedern der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (SVB) beim BMAS (vorher BMA bzw. BMGS) weiter fortgeschrieben. Dessen Tagungen fanden fast regelmäßig zweimal im Jahr statt, um aktuelle Begutachtungsfragen zu erörtern. Sofern nach dem Ergebnis der Beratungen Änderungen bzw. Erweiterungen der AHP erforderlich wurden, sollten diese zumindest mit Rundschreiben des Ministeriums bekannt gegeben und im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht werden; vereinzelt fand man diese auch auf den Internetseiten des BMAS.

Von Bedeutung ist hier weiterhin das Urteil des LSG NRW vom 22.04.2004 - L 7 SB 60/03 - : Danach besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Herausgabe der Niederschriften des ärztlichen SVB. Innerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens nach dem SGB IX kann nämlich der betroffene Antragsteller Auskunft über die der Entscheidung und ihrer rechtlichen Würdigung zugrunde liegenden, schriftlich fixierten Empfehlungen des Sachverständigenbeirates zur Auslegung, Konkretisierung und Anwendung der AHP beanspruchen; die Waffengleichheit im Verfahren ist zu gewährleisten. Nach dem Prinzip von Treu und Glauben muss die Behörde den Beteiligten eines Verwaltungsverfahrens auf Anfrage die zur Rechtsverfolgung nötigen und anders nicht erreichbaren Auskünfte erteilen. Der Inhalt der Anhaltspunkte, die antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, ist nämlich nicht ausschließlich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden zu ermitteln. Vielmehr sind Zweifel vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber (dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin bzw. bei dem für diesen geschäftsführend tätigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales) zu klären (BSG, Beschluss vom 02.12.2010 - B 9 VH 2/10 B -).

Im Juni 2004 wurden die AHP unter dem Titel "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" neu aufgelegt. Dabei wurden im Wesentlichen die zwischenzeitlichen Änderungen seit 1996 eingearbeitet und sprachliche Anpassungen aufgrund der Überführung des Schwerbehindertengesetzes in das zum 01. Juli 2001 in Kraft getretene Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorgenommen. 2005 und 2008 erfolgten neue Auflagen mit nur wenigen Änderungen.

Nunmehr endlich, nämlich nachdem das BSG schon vor 14 Jahren (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 -, s. auch "Rechtsnatur der Anhaltspunkte" in der Kommentierung der AHP 2008 - auf der CD von anhaltspunkte.de) eine Ermächtigungsnorm sowie klare gesetzlichen Vorgaben für die AHP angemahnt hat, wurde durch das zum 21.12.2007 in Kraft getretene "Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts" vom 13.12.2007 (BGBl. 2007 I S. 2904 ff) für die Verrechtlichung der AHP eine Ermächtigungsgrundlage für eine vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu erlassende Rechtsverordnung geschaffen. Dem § 30 BVG wurde der Absatz 17 angefügt:

"Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln."

Dem folgend werden die für Feststellungsverfahren nach dem SGB IX zuständigen Behörden an diese Maßstäbe gebunden. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX wurde wie folgt gefasst:

"Die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der aufgrund des § 30 Abs. 17 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung gelten entsprechend."

Durch das Gesetz wurden im Übrigen zwar zahlreiche Änderungen im Bereich des Versorgungs- und auch des Schwerbehindertenrechts vorgenommen. Inhaltlich sind die Änderungen aber eher gering und beschränken sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Aktualisierung. So wurde im Sozialen Entschädigungsrecht die Bezeichnung "Minderung der Erwerbsfähigkeit" (MdE) durch "Grad der Schädigungsfolgen" (GdS) ersetzt. Dies soll der Klarstellung dienen, dass nicht schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen auch nicht entschädigt werden. In den AHP wurde indes der Begriff der MdE bei der Bewertung von Schädigungsfolgen bis Ende 2008 weiter benutzt.

Mit Wirkung zum 01.01.2009 wurden die AHP durch die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" - Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2008 - ersetzt (s. im Weiteren die Vorbemerkung zu den VMG); sie werden nun - im Ergebnis das o.a. Konzept der AHP fortsetzend - durch Verordnungen zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung fortgeschrieben. Zu beachten ist dabei, dass die VersMedV, bei der es sich um eine Rechtsverordnung und damit eine untergesetzliche Rechtsnorm handelt, die Rechtsanwender dann nicht bindet, wenn inhaltlich gegen höherrangige Rechtsnormen verstößt (BSG, Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R - zu den Bewertungsvorgaben der VMG zum Diabetes mellitus). Grundsätzlich ist allerdings davon auszugehen, dass die VMG den aktuellen Stand der Wissenschaft wiederspiegeln. Denn es gehört zu den Aufgaben des beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin, die Fortentwicklung der VMG entsprechend dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft vorzubereiten. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn substantiiert dargelegt wird, dass und inwiefern neuere medizinische Erkenntnisse bestehen (BSG, Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B -).

 

Quellen:
Rohr/Strässer, Bundesversorgungsgesetz, Bd.V, A 1 ff
Rösner, "AP 1996" - wichtige Änderungen und Ergänzungen. Die Versorgungsverwaltung 1997, S. 4 ff

Schillings / Wendler 03/2012