Wenn als Schädigung physikalische oder chemische Noxen bei Erkrankungen geltend gemacht werden, die in der Liste der Berufskrankheiten genannt sind, erfolgen die Beurteilungen nach den in den Merkblättern zu den entsprechenden Berufskrankheiten aufgeführten Grundsätzen.
An der Begutachtung von Strahlenschäden sollte in Zweifelsfällen ein strahlenbiologisch erfahrener Sachverständiger beteiligt werden.
(1) Als ionisierende Strahlen werden Röntgenstrahlen und andere ionisierende Teilchen bezeichnet, die u.a. durch den Zerfall natürlicher oder künstlicher radioaktiver Stoffe entstehen. Sie sind energiereich und können im lebenden Gewebe zu Störungen der Zelltätigkeit, zum Zelluntergang und damit zu funktionellen, morphologischen und genetischen Veränderungen führen.
Das Ausmaß der biologischen Wirkung ist vor allem abhängig von der Strahlendosis, der Strahlenart und -energie, der zeitlichen und räumlichen Verteilung der Dosis sowie der Strahlenempfindlichkeit des betroffenen Gewebes.
Die Dosis-Wirkungs-Beziehung bestimmt entscheidend den Umfang der Strahlenwirkung. Man unterscheidet dabei Dosis-Wirkungs-Beziehungen mit einer Schwellendosis, unterhalb der keine Strahleneffekte zu beobachten sind (deterministisch = nichtstochastisch) und Dosis-Wirkungs-Beziehungen ohne Schwellendosis (stochastisch), bei denen selbst im niedrigen Dosisbereich Effekte auftreten können. Die Höhe der Schwellendosis kann je nach Organ unterschiedlich sein.
Bei deterministischen Strahlenwirkungen (z.B. akute Schäden, Katarakt, fibrotische Prozesse, chronisches kutanes Strahlensyndrom) kommt eine Anerkennung mit Wahrscheinlichkeit in Betracht, wenn die Schwellendosis erreicht oder überschritten wird.
Bei stochastischen Strahlenwirkungen (vor allem bösartigen Neubildungen, insbesondere Leukämien, sowie Bronchial-, Brust- und Schilddrüsenkarzinom) hängt es von mehreren Faktoren ab, ob eine Beurteilung mit Wahrscheinlichkeit erfolgen kann; ggf. kommt eine Kannversorgung in Betracht (siehe auch Nummern 122 und 142).
Nach Anwendung von Thorotrast, das in den Jahren 1928 bis 1950 zur Röntgendarstellung von Gefäßen und Hohlräumen (z.B. Nierenbecken, Fisteln) benutzt wurde, sind häufig am Ort der Applikation und in Leber, Milz, Lymphknoten und Knochenmark Ablagerungen von radioaktivem Thorium zurückgeblieben. Durch Strahlenschädigung und Fremdkörperreiz können diese Ablagerungen am Applikationsort zu Thorotrastgranulomen (sog. Thorotrastome), zum Teil mit Fistelbildung und auch mit maligner Entartung, führen. An der Leber und Milz können sich Fibrosen, an der Leber auch mit zirrhotischem Umbau, entwickeln. Weitere Folgen sind Leberkarzinome, Endotheliome der Leber, seltener Leukämien und aplastische Anämien.
Oft treten die Folgen der Thorotrastablagerung erst viele Jahre - bis zu Jahrzehnten - nach der Applikation in Erscheinung.
Die MdE-Bewertung richtet sich nach Art, Umfang und nachweisbarer Auswirkung des Thorotrastschadens. Bei ausgedehnten Ablagerungen in Leber und Milz ist die MdE mindestens mit 30 v. H. zu bewerten.
Bei ehemaligen Kriegsgefangenen, die mehrere Jahre im Uranbergbau gearbeitet haben, sind vermehrt bösartige Geschwülste der Atmungsorgane beobachtet worden (siehe Nummer 142 Abs. 2 und 4). Schäden anderer Art konnten bisher nicht sicher nachgewiesen werden.
Über Blutkrankheiten infolge ionisierender Strahlen siehe Nummer 122 Absätze 5 und 6.
(2) Folgen nichtionisierender Strahlung (z.B. Radar) sind nur bei hochgradiger Exposition in Form von thermischen Schäden (insbesondere Katarakt) nachgewiesen.
b) Schädigung durch elektrischen Strom
(1) In Abhängigkeit von Stromstärke, Stromart, Stromweg und Dauer der Einwirkung, denen der Betroffene ausgesetzt war, können organische Dauerschäden auftreten. Der Strom kann einerseits zu Reizwirkungen auf erregbare Gewebe und anderseits zu Wärmewirkungen führen. Der Stromweg kann aus Strommarken an der Haut erschlossen werden. Das Vorhandensein von Strommarken ist jedoch nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer Schädigungsfolge.
(2) Bei niedrigen Spannungen (50 bis 1000 Volt) können bei entsprechender Stromstärke und vorwiegend bei Wechselstrom am Herzen Kammerflimmern und auch andere Rhythmusstörungen auftreten, die - soweit sie überlebt werden - in der Regel keine Dauerschäden hinterlassen. Auch Hirnfunktionsstörungen sind im allgemeinen vorübergehend. In Einzelfällen sind bleibende zerebrale Schäden beobachtet worden. Veränderungen am Rückenmark sind ebenfalls selten und haben oft eine relativ günstige Prognose.
(3) Bei Hochspannungsunfällen (auch bei Blitzschlag) treten vor allem äußere und innere Verbrennungen und innere Verkochungen auf. Der Nachweis und die Lokalisation der Strommarken erleichtert die Zusammenhangsbeurteilung. Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen (wie Muskelrisse, Muskelzerstörungen, Knochenbrüche, Hitzesprünge in den Knochen) und bleibende Rückenmarkschäden sind beschrieben worden. Durch Muskelzerfall (Crush-Syndrom) kann es zu einem bleibenden Nierenschaden kommen.
(4) Liegen Augen oder Ohren im Stromfluss, können u.a. Katarakte, Uveitis, retrobulbäre Neuritis, Aderhautrisse bzw. Schwerhörigkeit auftreten.
(5) Bei Elektrotraumen, die mit ausgedehnten Verbrennungen oder Nekrosen einhergehen, ist mit entsprechenden Komplikationen zu rechnen (siehe unter c, Absatz 4).
c) Schädigung durch Hitze
(1) Bei Exposition gegenüber strahlender Hitze kann es zu tetanieähnlichen Hitzekrämpfen kommen, die im allgemeinen nicht zu Dauerschäden führen. Die Hitzeerschöpfung bleibt ohne Dauerfolgen.
(2) Der Sonnenstich als Folge direkter Hitzebestrahlung des ungeschützten Kopfes ist durch plötzliche zerebrale Erscheinungen gekennzeichnet, bevor es zu allgemeinen Zeichen der Wärmeeinwirkung kommt.
(3) Der Hitzschlag durch Verhinderung der Wärmeabgabe bei zu großer Wärmezufuhr von außen (hohe Luftfeuchtigkeit, geringe Luftbewegung, trübes Wetter, Marschkolonnen) ist durch starke Erhöhung der Kerntemperatur und durch Einschränkung bzw. Sistieren der Schweißsekretion charakterisiert. Geht dieses Stadium in einen Zusammenbruch der Kreislaufregulation über, können vor allem schwere Veränderungen der Ganglienzellen des Gehirns sowie der Leber und der Nieren die Folge sein. Außerdem werden Blutungen durch kapillare Schädigungen, auch in den Hirnhäuten, beobachtet.
(4) Bei Verbrennungen oder Verbrühungen ist - abhängig von ihrer Ausdehnung und Tiefe - neben den lokalen Veränderungen mit den Folgen einer Verbrennungskrankheit (z.B. akute Magengeschwüre, Leber- oder Nierenschädigung) zu rechnen.
d) Schädigung durch Kälte
Als Folgen einer allgemeinen extremen Unterkühlung können Herzkammerflimmern, Erosionen der Magenschleimhaut, akute Magengeschwüre, Anämie (Kältehämolyse) oder Nierenschäden auftreten. Die vorgenannten Schäden können auch dann vorkommen, wenn örtliche Erfrierungen nicht aufgetreten sind.
Ein lokaler Kälteschaden kann akut zu Erythem, Blasenbildung und Nekrosen führen. Ein chronischer Kälteschaden der Haut äußert sich durch rezidivierende juckende Rötung und Knotenbildung im Bereich der Akren (Frostbeulen = Perniones), die durch Erwärmung nach relativer Abkühlung meist im Frühjahr oder Herbst in Erscheinung treten. Die Auswirkungen eines lokalen Kälteschadens auf die Gefäße bleiben stets auf die Lokalisation des primären Kälteschadens begrenzt.
e) Schädigung durch Luftdruckänderung
(1) Als Druckfallkrankheit (Dekompressionskrankheit) werden die Gesundheitsstörungen bezeichnet, die durch schnellen Luftdruckabfall mit Bildung von Stickstoffgasblasen in Blut und Gewebe verursacht werden.
Zu den Krankheitszeichen, die auch noch nach vielen Stunden auftreten können, gehören vor allem Gelenk- und Muskelschmerzen sowie Hör- und Gleichgewichtsstörungen, ferner Tonusverlust der Muskulatur, Asphyxie, mehrtägige Temperatursteigerungen, örtliche Zirkulationsstörungen (z.B. Marmorierung der Haut, Herzdurchblutungsstörungen). In der Regel klingen diese Symptome unter Rekompression ab.
Als Dauerfolgen schwerer Schädigungen sind Rückenmarkschäden (mit Lähmungen überwiegend der unteren Gliedmaßen und anderer Querschnittssymptomatik), Hirnschäden, Hörstörungen, aseptische Knochennekrosen und sehr selten Sehstörungen oder Folgen eines Herzinfarktes beschrieben.
Bei raschem Aufstieg in große Höhen oder bei Zwischenfällen während des Höhenfluges ist die Gefährdung durch den Luftdruckabfall nicht so groß, wie bei vorherigem Aufenthalt in Überdruck.
Bei einer rapiden Dekompression, die wie bei Tauchern auch beim Höhenflug vorkommen kann, können Verletzungen der Lungen und anderer lufthaltiger Organe - u.U. mit Luftembolien - auftreten.
(2) Bei schnellem Luftdruckanstieg (z.B. beim Tauchen) kann es zu Trommelfellrissen kommen.
f) Schädigung durch Sauerstoffmangel
Bei Aufenthalt in großen Höhen (über 4000 Metern) ohne Anpassung oder Ausgleich können Dauerschäden am Zentralnervensystem, Netzhautblutungen sowie bei mehrwöchigem Aufenthalt in großen Höhen Schäden am Herz-Kreislaufsystem auftreten. Die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel ist unterschiedlich groß.
g) Schädigung durch Erstickungsgase
(1) Bei der Wirkung der Erstickungsgase unterscheidet man eine äußere und eine innere Erstickung.
(2) Die äußere Erstickung entsteht durch Verdrängung des Sauerstoffs in der Atemluft, z. B. durch Stickstoff oder Kohlendioxid. Erste Symptome treten beim Gesunden bei Sauerstoffkonzentrationen unter 15 Vol.% auf und äußern sich unspezifisch mit Störungen wie Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Personen mit vorgeschädigten Organen (z.B. Koronarsklerose) können bereits bei Sauerstoffkonzentrationen oberhalb der vorgenannten Grenze entsprechende Symptome zeigen (z.B. Stenokardien). Bewusstlosigkeit tritt bei Sauerstoffkonzentrationen unter 10 Vol.% auf. Dauerschäden können sich durch Hypoxien an einzelnen Organen (z.B. Gehirn, Herz) entwickeln.
(3) Die innere Erstickung wird durch Interaktionen einiger Gase, insbesondere Kohlenmonoxid (CO), im Stoffwechsel hervorgerufen. Die Höhe der Konzentration von CO in der Atemluft, das Atemminutenvolumen, und die Einwirkungsdauer des CO sowie das Herzminutenvolumen und die Umgebungstemperatur bestimmen die Schwere der CO-Schädigung, die letztlich zur inneren Erstickung führen kann. Besonders betroffen werden die für Sauerstoffmangel empfindlichen Gewebe wie Gehirn und Herz.
Bei akuten Vergiftungen treten ab Carboxi-Hämoglobin(CO-Hb)-Spiegeln von 15% unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Übelkeit und Kopfschmerzen auf. Ab 25% CO-Hb werden EKG-Veränderungen beobachtet. Bewusstlosigkeit tritt ab 40% CO-Hb ein. Eine CO-Hb-Konzentration von über 60% ist in der Regel tödlich. Dauerschäden treten fast ausschließlich nach schweren akuten Vergiftungen auf. Hirnschäden, vor allem im Stammhirnbereich (parkinsonähnliche Bilder, zentralvegetative Störungen), Herzmuskelfunktionsstörungen und Sehstörungen sind bekannt.
Nach Langzeiteinwirkung im Niedrigdosisbereich sind ähnliche Dauerschäden beschrieben worden; ihre Annahme setzt sorgfältige differentialdiagnostische Erwägungen voraus.
(4) Die sogenannte Rauchvergiftung geht nicht allein oder überwiegend auf CO zurück, obwohl CO auch im Rauch enthalten sein kann. Der bei Verbrennungsprozessen entstehende Rauch ist in seiner Zusammensetzung unterschiedlich. Die im Einzelfall mögliche gesundheitsschädigende Wirkung ist insofern nicht einheitlich. Die Begutachtung setzt im Einzelfall die Kenntnis der verbrannten Substanzen voraus.
h) Schädigung durch Reizstoffe
(1) Bei den Reizstoßen werden gut wasserlösliche und schwer wasserlösliche Stoffe unterschieden.
(2) Zu den gut wasserlöslichen Reizstoffen gehören Tränengase, die schleimhautreizend im oberen Atembereich und an den Augen wirken; Dauerschäden sind auch nach wiederholter Einwirkung nicht beobachtet worden.
Zu den gut wasserlöslichen Reizstoffen sind ferner künstliche Nebelmittel zu rechnen. Nach akuter Einwirkung treten Reizerscheinungen im Bereich der Atemwege und der Augen auf, die sich jedoch in der Regel vollständig zurückbilden. Bei einer schweren Vergiftung kann es - meist erst nach Stunden - zu einem Lungenödem kommen. Im weiteren Verlauf kann eine Bronchopneumonie auftreten.
(3) Die schwer wasserlöslichen Reizstoffe (z.B. Stickoxide) wirken auf die Alveolen und können nach einer mehrstündigen Latenz zu einem toxischen Lungenödem führen. Spätfolgen können Lungenfibrosen sein.