(1) Kriegsgefangenschaft, Internierung oder rechtsstaatswidrige Haft in der DDR waren oftmals - vor allem in den ersten Jahren nach dem letzten Krieg und zum Teil viele Jahre lang - durch extreme Lebensverhältnisse geprägt, zu denen ebenso Unter- und Fehlernährung und Infektionskrankheiten (vor allem Darminfekte) wie schwere körperliche und psychische Belastungen bei mangelnder Erholungsmöglichkeit und ungünstige hygienische und klimatische Verhältnisse und auch Misshandlungen gehörten.
(2) Bei Untersuchungen von Heimkehrern aus der Gefangenschaft, Internierung oder Haft ist der Erhebung einer ausführlichen Anamnese, die vor allem die speziellen Lebensverhältnisse in ihren Einzelheiten erfasst, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus der Anamnese ergeben sich wesentliche Hinweise für mögliche Spätschäden.
(3) Die Unter- und Fehlernährung führte zu verschiedenen Formen der alimentären Dystrophie (anfangs auch Eiweißmangelschaden, Mangelkrankheit, Ödemkrankheit genannt), die klinisch als ödematöse und trockene - in der "Auffütterungsphase" auch als lipophile - Dystrophie in Erscheinung trat. Ihr Auftreten und ihr Verlauf wurden begünstigt und beeinflusst durch Infektionskrankheiten sowie durch körperliche und psychische Belastungen. Daneben führte die Dystrophie zu einer Schwächung des Immunsystems und damit zu einer verminderten Widerstandskraft gegen Infektionen und andere Erkrankungen. Die während der Dystrophieperiode ablaufenden Erkrankungen zeigten infolge der veränderten Reaktionsfähigkeit des Organismus oft eine atypische Symptomatik. Lipophile Dystrophien, die vor allem nach schneller "Auffütterung" auftraten, gingen oft mit einer dilatativen Kardiomyopathie einher.
(4) Die unkomplizierte Fehl- oder Unterernährung mit oder ohne Ödeme hinterließ bei der großen Regenerationsfähigkeit der meisten Gewebe in der Regel keine bleibenden Folgen; die Schwächung des Immunsystems bildete sich in der Regel innerhalb von zwei Jahren (Reparationsphase) zurück. Mehrphasige oder besonders langdauernde alimentäre Dystrophien oder die Summation von Dystrophie mit infektiösen oder toxischen Schädigungen konnte zu länger anhaltenden, dauernden oder erst spät in Erscheinung tretenden Folgen führen, besonders bei Betroffenen im jüngeren und höheren Lebensalter.
Nicht selten ist es als Summationsschaden nach extremen Lebensverhältnissen zu Leberschäden gekommen, zu denen auf die Nummer 108 verwiesen wird.
Unter dem Einfluss von extremen Lebensverhältnissen mit Dystrophie, ggf. mit Anämie oder Blutdruckänderung, konnte es zu Störungen der Herzfunktion (Herzrhythmusstörungen und Störungen der Erregungsrückbildung) kommen, die in der Regel vorübergehend waren. Über die Koronarsklerose und den Herzinfarkt siehe Nummern 92 und 101.
Schädigungen des Gehirns im Sinne einer dystrophisch bedingten Hirnatrophie (vor allem im Hirnstammbereich) sind insbesondere nach langdauernder schwerer Dystrophie bekannt geworden; auch Hirntraumen im Stadium der Dystrophie konnten einen dystrophischen Hirnschaden begünstigen. Eine solche Hirnatrophie ist allein aufgrund einer organischpsychischen Veränderung schwierig zu erkennen; die Diagnose ist erst durch ergänzende Untersuchungen (z.B. Computertomographie, Kernspintomographie) möglich.
(5) Als Folge des Summationstraumas - vor allem der psychischen Belastungen - können sich auch chronifizierte Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen bzw. andauernde Persönlichkeitsveränderungen (früher erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel) - nach extremen Lebensverhältnissen in früher Kindheit auch Neurosen - entwickeln. Hierzu wird auf die Nummern 70 und 71 verwiesen.
(6) Im Zusammenhang mit den allgemeinen körperlichen und seelischen Belastungen und als Folge der Dystrophie war nach langjähriger Gefangenschaft, Internierung oder Haft bei fast allen Betroffenen zunächst ein ausgeprägter Erschöpfungszustand mit vegetativen und psychischen Störungen (z.B. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung - siehe Nummer 71 -, Schwitzneigung, Schlafstörungen, allgemeine Schwäche) zu beobachten. Diese Störungen, die besonders in der Aufbauphase in großer Vielfältigkeit augenscheinlich waren, benötigten häufig eine längere Zeitspanne (in der Regel zwei Jahre) zum Ausgleich. Schwierigkeiten beim Übergang in das Alltagsleben und in die Berufsarbeit sowie bei der Eingliederung in die Familie und die Gesellschaft konnten für den Ablauf der Heilung bedeutsam gewesen sein. Diese Allgemeinerscheinungen pflegten allmählich in wenigen Jahren folgenlos abzuklingen. Bei Jugendlichen, Frauen und im höheren Lebensalter konnte sich die Rückbildung erheblich verzögern.
(7) Hinsichtlich weiterer Folgen von extremen Lebensverhältnissen und alimentärer Dystrophie siehe Nummern 55 Absatz 5 (Tuberkulose), 64 (multiple Sklerose), 90 Absatz 8 (Pneumokoniosen), 93 Absatz 1 (entzündliche Arterienerkrankungen), 103 Absatz 2 (Zahnschäden), 106 (Ulkuskrankheit), 109 (Eingeweidebrüche), 141 (Sarkoidose), 142 Absatz 2 und 143 Buchst. a (bösartige Geschwülste).